412 Tage danach
AlexaEs ist Sonntag und wie immer höre ich meine Schritte auf den Fliesen des kahlen Krankenhausbodens. Ich schiebe die Tür hinter mir ins Schloss und lasse mich auf meinen inzwischen durchgesessenen Stuhl fallen.
Jaspers Gesicht ist so blass wie jedes Mal, wie jeden Sonntag den ich hier verbringe und mit ihm die Nachrichten schaue. Manchmal nutze ich auch den Internetzugang und schummle mich in das Büro der Oberschwester, aber nur manchmal. Eigentlich mag ich es zu wissen, dass Jasper auf eine Art und Weise anwesend ist. Ich sehe ihn und weiß, egal wie sehr Travis uns alle trennen wollte, er konnte es nicht, zumindest körperlich.Gegen Abend gesellen sich Jay und Lucy dazu, Lucy die inzwischen kein Problem mehr damit hat in unserer Gegenwart zu sprechen bringt Kuchen mit. Ich verschwinde meist die Sonntage hier her um den Beiden ein wenig Freiraum zu gönnen.
Nachdem wir uns alle so knapp verloren hatten bin ich nicht nach Harvard gegangen. Jay hat die Firma seines Vaters nicht übernommen und Lucy und er sind in einer Wohnung ganz in der Nähe der Uni hier zusammen gezogen. Dass sie mich bei sich wohnen lassen liegt am meisten daran, dass Lucy mich dort haben will. Ich kann ihre Beziehung nicht ernst nehmen, zumal sie unter normalen Umständen niemals zusammen gekommen wären. Laut meinem Therapeuten spricht da die Zynikerin aus mir. So langsam ist es sogar normal für mich, dass Jay ihre Hand nimmt und sie es zulässt.
Während die beiden also ein glückliches Pärchen sind verbringe ich meine Zeit damit jedes Sandkorn umzudrehen was Travis jemals berührt hat. Als die Uhr über dem Fenster auf neun springt verabschieden wir uns von Jasper und schlendern zusammen zurück zum Ausgang. Jay wird mit dem Auto hier sein und er wird mich fragen , ob er mich mit nach Hause nehmen soll. Aber das fragt er mehr weil Lucy es will und nicht weil er es möchte. Seit dieser Nacht ist das sonst so gute Verhältnis zwischen mir und Jay mehr als nur im Eimer. Ich weiß es macht keinen Sinn, dass wir Lucy etwas vorspielen, aber etwas ist kaputt.
Wie vorher gesehen dreht er sich zu mir und deutet auf seinen Wagen," sollen wir dich mitnehmen?"
Ich schüttle den Kopf und deute auf die Haltestelle, zum einen weil ich keine zehn Minuten in Stille und Lucys zwanghaften Gesprächen aushalte, zum anderen, weil ich noch etwas zu erledigen habe.Ich lasse die zwei alleine und ziehe mir die Mütze meines Hoodies tiefer ins Gesicht während ich die Straße entlang laufe. Ich komme eine halbe Stunde später in der Apotheke an und klopfe zwei mal gegen die Hintertür. Benes kleine Schwester die inzwischen so viel Ähnlichkeit mit ihrem Bruder hat, dass ich es jedes mal kaum glaube öffnet und schiebt mir die Schachtel durch den Türschlitz. Ich bleibe kurz an ihren braunen Augen hängen und muss unwirklich an die Beerdigung denken. Die Schusswunde mitten in der Brust war durch einen blauen Anzug verdeckt worden. Ich weiß genau wie ich mit der Schiene an der Schulter vor dem Sarg gestanden habe und in sein friedliches Gesicht gesehen habe. Als die Tür wieder ins Schloss fällt laufe ich zu Fuß wieder zur Wohnung, klopfe aber bevor ich aufschließe weil ich nicht vor haben Jay und Lucy bei irgendwas zu sehen. Die Wohnung riecht nach essen und ich höre wie Lucy in der Küche herumwirbelt, ohne Jayson auf der Couch zu begrüßen ziehe ich mich in mein Zimmer zurück und schnappe mir von meinem Nachttisch die angefangene Flasche Schnaps bevor ich mich dazu entscheide Lucy beizuwohnen.
Laut lasse ich meinen Nacken knacken und nehme auf der Küchenzeile platz. Lucy beäugt die Flasche nur kritisch lässt mich aber weiter trinken während sie Brokkoli schneidet.
Unter andern Umständen hätten wir hier gestanden und ich und sie hätten Witze gerissen. Jay und Jas hätten auf der Couch Videospiele gespielt und wir hätten das Leben genossen .
Heute ist es als würde eine unsichtbare Wand uns von einander trennen. Lucy hat nicht einmal mit mir über den Prozess von Noah gesprochen und das obwohl wir beide diesen Monat aussagen müssen.
So sehr wir uns auch vormachen, dass Travis uns nichts anhaben konnte, das konnte er.
Seitdem er alles online gestellt hat, was er über uns weiß und die Videos wie wir uns gegenseitig anschreien die Runde gemacht haben, ist nichts mehr gleich.
Wir sind nicht mehr die Elite dieser Stadt, auf einen Schlag sind wir von allen bemitleidet worden, ständig wollte jemand meine Hand nehmen und mir sagen, dass alles gut wird. Travis hat uns wie ein Stück Filet den Hunden zum fressen vorgeworfen und sie zerreißen sich seit einem Jahr die Mäuler über uns.
Der Alkohol brennt in meiner Kehle während ich damit die Erinnerungen an die Aussagen die ich machen musste verdränge. Sie haben mir die Videos die Travis von uns gemacht hat vorgestellt und zu sehen wie wir miteinander umgegangen sind hat mich jegliche Nerven gekostet.
Mein Handy leuchtet auf und als ich die Nachrichten checke bin ich mehr als froh, eine Party nur ein paar Blocks entfernt von hier. Ich kippe den letzten Rest der durchsichtigen Flüssigkeit meine Kehle herunter und schnappe mir dann meine Jacke.
"Willst du nicht mit essen?"
Lucy wirkt schon fast etwas verzweifelt, aber ich schüttle den Kopf und verschwinde dann nach draußen.Unter anderen Umständen wären wir wahrscheinlich noch immer eine Einheit.
Ich wäre für Lucy und Jayson auf dem Kies gestorben, als ich Travis mit aller Kraft die Luft abgedrückt habe und wollte, dass sie verschwinden. Ein Teil von mir hatte sich schon längst damit abgefunden. In diesen paar Sekunden habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich sie zusammen retten wollte. Seit wir wieder Zuhause sind hängen eine menge unausgesprochene Worte zwischen uns. Jay hat nur einmal mitbekommen wie ich darüber hergezogen habe, dass die Beziehung der beiden unmöglich ernst sein kann, weil sie nur existiert wegen der Nacht. Wir sind alle unsicher wie wir miteinander umgehen müssen. Also tun wir die meiste Zeit einfach so als wäre nichts passiert und lassen zu, dass der Vulkan in unserer Mitte wächst, bis er irgendwann ausbricht und alles um sich herum verschlingt.
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What happend to us
Ficção AdolescenteWir waren vier Freunde. Jetzt sind wir das was von uns übrig ist.