Lucy // 418

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417 Tage danach 
Lucy 

"Brauchen wir sonst noch was?" 
Ich sehe Jayson an der den Einkaufswagen schiebt und auf die Liste in seinem Handy linst. 
"Nö," er betont das Ö und schiebt das Telefon dann in seine Hosentasche. 
Ich lasse meinen Blick über unseren Wagen und dann die umliegenden Regale schweifen. 
Beinahe hätte ich entnervt geseufzt, lasse es aber sein und werfe selber zwei Flaschen von dem Schnaps den Alexa ständig trinkt in unseren Wagen. Jay beäugt mich nur kritisch und ich bin mir sicher, er muss sich einen Spruch verkneifen. 

Ich sollte Alexas Alkoholkonsum weder unterstützen noch für gut geheißen, aber sie hat mich darum gebeten ihr welchen mitzubringen. 

Wir stellen uns an der Kasse an und ich schaue ob ich noch irgendetwas finde, was ich mitnehmen kann, als mir jemand an die Schulter fasst. Die Hand ist zu klein um die von Jay zu sein, zumal dieser vor mir steht. 
Jegliche Regung verschwindet aus meinem Körper und ich halte die Luft an. Meine Muskeln werden zu Stein, dann schiebt sich eine junge Frau in mein Blickfeld. 

"Ihr lebt ja wirklich noch hier," erklärt sie verwundert. 
Ich kann ihr nicht antworten, selbst wenn ich wollte ist es als hätte ich meine Zunge verschluckt. 
Ich hasse es wenn mich einfach jemand anfasst, vor allem wenn ich die Person nicht kenne. 
"Fühlt ihr euch sehr schuldig wegen eurer toten Freunde?" 
Mir steigt Magensäure in den Hals als sie mich neugierig ansieht. 
Jayson reagiert schnell, er nimmt mein Gesicht in seine Hände und zwingt mich in seine Augen zu sehen. 
"Ich bin hier," erklärt er mir und atmet extra laut ein und aus. 
Ich atme zittrig zusammen mit ihm ein und kann nicht verhindern, dass mir Tränen in die Augen steigen. 
"Menschen wie sie sind das Letzte," erklärt er, bevor er mich hochhebt und achtlos aus dem Supermarkt spaziert. 
Wie ein kleines Kind schlinge ich meine Arme und Beine um ihn und schütze mein Gesicht an seiner Schulter. 
Es ist nicht das erste Mal, dass ich in der Öffentlichkeit eine Panikattacke bekomme, es ist aber seit über einem halben Jahr, das erste Mal, dass diese jemand anderem zu verdanken ist. Erst als er mich neben dem Wagen wieder los lässt füllen sich meine Lungen richtig mit Sauerstoff. 

Ich kann mir vorstellen wie grässlich ich gerade aussehen muss, mein Kopf wird knallrot sein und meine Augen glasig vor Feuchtigkeit. Jay drückt einen langen Kuss auf meinen Scheitel und schließt dann den Wagen auf damit ich mich setzen kann. 

"Ich gehe eben bezahlen, dann komme ich sofort wieder okay?" 
Ich nicke nur, unfähig überhaupt irgendwelche Worte heraus zu bringen.

Jayson verschwindet wieder durch die Schiebetüren des Ladens und lässt mich zurück. 
Obwohl die Sonne scheint und es ein warmer Nachmittag ist, friere ich. 

Timo fehlt mir, obwohl er im Prinzip nur Alexas Cousin gewesen ist, der manchmal mit uns abgehangen hat. Er und Bene waren eine eigene Einheit und sie sind beide tot. Sie sind zusammen beerdigt worden und ich bekomme seitdem das Gefühl nicht mehr aus meinem Körper wenn ich an die beiden denke. Es ist ein kribbeln in den Armen was so unangenehm ist, dass es Tränen in meine Augen treibt und sich dann mit den Gesichtern ihrer weinenden Familien vermischt. Jeder von uns hätte dort in diesem Sarg liegen können, aber es waren die Beiden, die es in dieser Nacht am wenigstens verdient hatten. 

Mein Therapeut hat schon oft mit mir darüber gesprochen, dass es nicht meine Schuld oder die von irgendeinem von uns ist. Weder ihr Tod noch Jaspers Situation sind Dinge die ich mir anlasten muss. Es ist lediglich Travis schuld, weil er krank ist und seine Krankheit ihn dazu getrieben hat. Aber wir sind schuld, selbst wenn das Gericht uns frei gesprochen hat. 

Die Staatsanwaltschaft musste kurz nachdem wir alle das Krankenhaus verlassen konnten eine Ermittlung gegen uns einleiten um herauszufinden ob wir Schuld an Mia's Selbstmord hatten. Wir sind zwar in allen Punkten freigesprochen wurden, trotzdem weiß ich, dass wir etwas dazu beigetragen haben. Nicht einmal Alexa hat ihr den Tod gewünscht, da bin ich mir sicher, aber auf eine Art und Weise haben wir sie jeweils ein Stück näher an den Abgrund geschubst. 

Ich klappe die Sonnenblende der Beifahrerseite herunter und beiße mir auf die Lippe. Das Gruppenfoto, welches Jay schon seit geraumer Zeit dort hängen hat blickt mir entgegen. Wir vier sehen aus wie andere Menschen aus einer anderen Zeit. Alexa lächelt während ich auf ihrem Rücken hänge und Jay durch die Haare strubbel der Jasper im Schwitzkasten hat. Vorsichtig fahre ich mit dem Finger über die ausgefransten Ecken des Fotos und hole tief Luft um nicht zu weinen. Dies vier Freunde hier auf dem Bild, sind andere als die die wir jetzt sind. 

Jayson bleibt stumm während er die Taschen einräumt und dann den Wagen startet. Er schaltet und legt dann jedes Mal seine Hand auf mein Bein. Es ist ein kleine Geste, aber sie bedeutet mir eine Menge. 
Ich weiß, dass Alexa nicht versteht wieso wir zusammen sind. Für sie sind wir echt nur ein Paar weil wir die schlimmste Nacht in unserem Leben zusammen erlebt haben und wahrscheinlich stimmt es zum Teil sogar, aber nur weil wir uns sonst niemals getraut hätten ehrlich zu einander zu sein. 
Während Alexa in ihrem Zynismus ertrinkt reagiert Jay mit Ignoranz auf alles was an diesem Abend passiert ist. Die Beiden verstehen nicht, dass ich so damit zu kämpfen habe weil ich dachte ich wäre alleine. Als ich das blöde Fenster eingeschlagen habe, dachte ich alle meine Freunde sind tot und ich sehe sie nie wieder. Das Gefühl kann keiner von ihnen verstehen, selbst wenn sie es versuchen würden. 

Die meiste Zeit wünsche ich mir einfach nur zurück, was vor einem Jahr so verdammt selbstverständlich gewesen ist. 

What happend to usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt