Winterwitch

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"Kannst oder willst du mich nicht verstehen Wanda?
Man kann mich nicht mehr reparieren.
Ich bin abgenutzt, gebrochen, kaputt. Und kaputte Dinge werden weggeworfen."
James senkte den Kopf und starrte die Bettdecke unter seinen überkreuzten Beinen an.
Wanda versuchte, den Druck in ihrer Brust herunterzuschlucken, der sich während seinen Worten gebildet hatte.
"Weißt du", begann sie und ergriff vorsichtig seine Hände, "Manchmal . . . kann man kaputte Dinge . . . in etwas Neues verwandeln."
Ihre Stimme war leise und sanft, aber es lag auch etwas anderes darin. Verständnis.
Unsicherheit.
Er sah auf.
In diesem Moment waren sie sich nah, so nah.
Ihre Gesichter waren wenige Zentimeter voneinander entfernt, ihre Blicke miteinander verbunden, vollkommen unfähig, wegzusehen. Ihre Hände klammerten sich aneinander, die Finger fest miteinander verschränkt, als wäre es ihre letzte Rettung, der Strohhalm an den man sich klammerte, der Rettungsring kurz vor dem Ertrinken – ängstlich, verzweifelt, Halt suchend. Würde sich nur einer ein Stück bewegen, sich dazu überwinden, den ersten Schritt zu machen und sich nach vorn lehnen.
Es würde alles ändern.
Es könnte beide retten.
Vor dem dunklen Abgrund, in den sie stürzen würden, wenn das dünne Band zwischen ihnen riss, die Verbindung abbrach.
Funkstille.

Aber es sollte nicht so sein.

All das hier musste ein tragisches Ende nehmen.
Ein Ende, welches zwei kaputte Seelen zusammenwachsen ließ, sie erkennen ließ dass sie sich gegenseitig heilen konnten – nur um sie dann wieder gewaltsam auseinander zu reißen.

Es sollte nicht so sein.

James schüttelte leicht den Kopf.
„Das kann nicht gut gehen.", flüsterte er.
Sein warmer Atem streifte Wandas Gesicht.
Sie wagte es nicht, sich zu bewegen – ebenso wenig wie er.
„Es würde niemals gut gehen. Du kannst mir nicht helfen – ebenso wenig wie ich dir."
Sie wusste, dass er nicht an das glaubte, was er sagte.
Sie wusste es einfach.
Sie tat es selbst nicht.
Trotzdem war sie ihm dankbar, dass er diese Worte ausgesprochen hatte. Sie hätte es nicht über sich gebracht. Aber sie wusste, dass er Angst hatte, furchtbare Angst.
Sie fühlte es.
Ihr erging es nicht anders.
Was sollte passieren, wenn sie sich zu nah kamen?
Sie konnten jetzt schon nicht mehr lange ohne einander, sie brauchten sich.
Aber diese Abhängigkeit – sie machte beide nur noch verletzlicher.
Das war ein Risiko, ein großes Problem, welches die Welt in der sie bisher gelebt hatten, gefährdete.
Die Welt in der sie einfach nur funktionierten – funktionieren mussten, sonst würden sie endgültig zerbrechen.
Wanda verstand das alles, obwohl sie nicht wusste wie.
Sie war sich auch sicher, dass er ebenfalls verstand.
Sie fühlten beide das Gleiche.
Sie hatten die gleichen Probleme, die gleichen Sorgen, die gleichen Ängste. Eine beinah gleiche Vergangenheit. Sie hatten den gleichen Schmerz erlebt.

Und trotzdem sollte es nicht so sein.

Es war ihnen nicht vergönnt, glücklich zu sein.
Miteinander.

Die Zeit verging langsam, zog sich dahin wie Kaugummi, doch gleichzeitig verflog sie auch übernatürlich schnell, während sie einfach nur da saßen, sich an den Händen hielten und sich tief in die Augen starrten.
Blicke konnten manchmal mehr als tausend Worte sagen.
Draußen wich der graue Winternachmittag einer dunklen Winternacht, tauchte das Zimmer für einen Moment lang in Finsternis.
Aber nur solange, bis die Lichter der Stadt durch das Fenster drangen und es beinahe wieder taghell wurde. Zwischen ihnen herrschte immer noch eine Stille – ein nachdenkliches, aber auch verzweifeltes Schweigen. Ein Schritt zu weit und alles würde sich ändern.
Vielleicht zum Besseren.
Ein Zurückweichen jedoch und alles würde schlimmer werden. „James . . .", murmelte Wanda.
Er antwortete nicht, aber ihr war klar, dass er ihr zuhörte.
„Du – du hast Recht denke ich. Es kann nicht gutgehen."
Sie verspürte ein starkes Stechen in ihrer Brust, als sie dies sagte, aber sie widerstand dem Drang, sich augenblicklich in seinen Armen zusammenzukrümmen.
Sie waren beide nicht stark genug, um sich zu überwinden.
Aus Angst vor dem neuen Schmerz der folgen könnte, der dem anderen zugefügt werden könnte, ließen sie sich selbst leiden.

Wanda wusste nicht mehr, wer von ihnen beiden als erster aufgestanden war.
Vielleicht hatten sie es auch gleichzeitig getan.
Aber sie erinnerte sich an den Schmerz, den sie verspürte – ihren und den von James.
Sie erinnerte sich an die Tränen, die in ihren Augen brannten – aber auch in seinen.
Sie waren so gleich, in vielen Dingen.

Deshalb sollte es nicht sein.

Die Nacht war dunkel und schrecklich, für beide.
Sie erwachten schreiend und verschwitzt aus dunklen Träumen, umgeben von Kälte und Einsamkeit. Niemand war da, der verstand. Niemand war da, um den anderen festzuhalten, zu beruhigen und zu sagen dass er nicht allein war.
Weil sie glaubten es wäre besser für den anderen.

Es sollte einfach nicht so sein.


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