Eins

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Das heftige Kribbeln in der Magengegend verwandelte das gesamte Szenario in die reinste Achterbahnfahrt. Der Boden unter meinen Füßen vibrierte. Der Sitz fing an, leicht zu ruckeln. Kurz um, ich hasste die Landung. Die Räder des Flugzeuges berührten endlich den Asphalt und ich presste die Schultern gegen die Rückenlehne. Erleichtert füllten sich meine Lungen. Ich hatte es geschafft. Ich hatte den zwölfstündigen Flug überlebt und war endlich wieder auf sicherem Boden.

Theoretisch hätte ich dem Fliegen keine derartig große Bedeutung zukommen lassen sollen, immerhin kannte ich es nicht anders. Seit meiner Kindheit reiste ich mindestens drei Mal im Jahr um die halbe Welt und doch lachte ich mir nach dem geglückten Landeanflug erleichtert ins Fäustchen.

„Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen in Nashville. Wir wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt und bedanken uns, dass Sie sich für American Airlines entschieden haben." Wie üblich verabschiedete sich der Captain freundlich und das gesamte Flugzeug fing an, euphorisch zu klatschen. Währenddessen versuchte ich kläglich, den Verschluss des Gurts zu lösen. Dieses Ding klemmte seit dem Start in Paris. Ich taufte ihn auf den Namen Horst. Meiner Erfahrung nach waren die Horsts dieser Welt eigensinnige und störrische Geschöpfe, genauso wie dieser verdammte Sicherheitsgurt. Nach einem schier aussichtslos erscheinenden Kampf schaffte ich es endlich, den Gurt zu öffnen. Ich atmete tief durch und schnappte mir den kleinen schwarzen Lederrucksack. Die Kopfhörer und mein Buch stopfte ich hinein. Indes sprangen die anderen Passagiere von ihren Sitzen und verwandelten die fröhliche Stimmung der erfolgreichen Landung in reines Fluchtfeeling.

Der meinerseits meistgehasste Moment an Langstreckenflügen war gekommen. Kaum erklärte der Captain den Flug für beendet, sprangen die Passagiere auf, als hätten sie ein ganzes Jahr auf der ISS verbracht und ihre Beine für Monate nicht spüren können. Alles stöhnte und streckte sich, während sie sich in den Gängen drängten. Genervt rollte ich mit den Augen und lehnte mich entspannt zurück. Ich schnappte mir das Telefon und entschied, meinem Vater ein kurzes Lebenszeichen zu schicken. Beim Gedanken daran, ihn endlich wieder in die Arme zu schließen, kribbelte mein Bauch heftiger als bei der Landung.

Ich, 17:38 Uhr:
Hey Daddy, bin grad gelandet, aber das Flugzeug ist arschvoll.

Dad, 17:38 Uhr:
Hi Sweety. Alles gut, nimm dir Zeit und achte auf deine Wortwahl!

Meine Mutter und mein Vater hatten sich Mitte der neunziger Jahre kennengelernt, während er in Deutschland stationiert wurde. Nachdem die beiden mehrere Wochenenden voller Party und heißem Sex miteinander verbracht hatten, wurde sie schwanger und er war grundsatzüberfordert. Ihre Wege trennten sich, doch anders als seine Kollegen bei der Army, entschied sich mein Vater dazu, zu seiner Verantwortung zu stehen. Er selbst hatte seine Eltern bei einem Unfall verloren und wuchs als Waise auf. Immer wieder betonte mein Dad, dass er ein derartiges Leben nie für mich gewollt hätte.

Vor zwölf Jahren lernte er seine jetzige Frau Naomi kennen. Auch sie hatte ihr Herz bereits an einen kleinen Wurm aus einer früheren Beziehung verschenkt. Kyles Vater hatte die beiden, kurz nach der Geburt seines Sohnes, sitzen gelassen. Im Alter von fünf Jahren lernten wir uns kennen und wuchsen seither wie Geschwister auf. In Deutschland war ich das Kind einer alleinerziehenden Mutter, nur um in den Staaten in die volle Pracht einer intakten Patchworkfamilie geschmissen zu werden. Im wahrsten Sinne des Wortes war ich eine Reisende zwischen zwei Welten. Nach und nach hatte sich das Flugzeug geleert, sodass auch ich meinen Weg durch die langen Gänge des Flughafens antrat. Diesen kannte ich mittlerweile so gut, dass ich mich blind zurechtgefunden hätte. Vor einem Jahrzehnt noch von Angestellten der Fluggesellschaft begleitet, lief ich nunmehr allein zur Visa-Kontrolle.

Eine Siebzehnjährige wurde schließlich nicht mehr an die Hand genommen. Brav trottete ich den anderen Passagieren hinterher. Ein paar hundert Meter später erreichte ich die Schlange an der Passkontrolle und reihte mich ein. Wie üblich ließen sich die Unarten mancher Menschen an dieser Stelle des Einreisespektakels bestens beobachten. An Flughäfen gab es meiner Ansicht nach drei Kategorien von Personen.

the miles between us || reloaded || abgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt