7. Kapitel - Der Schmetterlingseffekt

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"Die Zeit ist zerbrechlich, das Schicksal undurchschaubar, die Zukunft verworren." Die Worte klangen verzerrt und weit weg. "Du kennst den Weg, er ist in deinem Inneren." Weitere Worte, die auf mich einprasselten. "Am Ende des Weges leuchtet ein Licht. Öffne deine Augen, Cataysa. Folge ihm stets und verliere es nicht." Schlagartig öffnete ich meine Augen. "Das Licht", murmelte ich leise. Die Wahrheit war, ich fühlte mich wie von einem Lastwagen überrollt. Und ich würde nichts lieber tun, als einfach liegen zu bleiben, doch ich musste aufstehen. Tief in meinem Inneren wusste, ich, dass ich aufstehen musste. Ächzend verlagerte ich mein Gewicht auf die Seite, doch die Schmerzen, die durch meine Glieder schossen, waren beinahe unerträglich. Gleichzeitig machten sie mir klar, dass das Ganze wirklich passiert war. Aber wie konnte das sein? Es war doch alles nur ein Traum. Ich legte die Hand auf meine Brust, doch da schlug kein Herz. Als ich nach dem Angriff des verrückten Doktors nach meinem Herzschlag suchte, war mein Herz noch da. Doch nun konnte ich es nicht spüren. Ein eindeutiges Indiz, dass ich noch träumte. Aber wieso waren die Schmerzen so real? Ich sah in den Himmel über mir und wunderte mich schon gar nicht mehr, dass er in einem zarten Rosaton erstrahlte. Das Rosa wurde von violetten Wolken durchzogen. Es sah so schön aus. Wie konnte hinter diesem Todessumpf so etwas schönes versteckt sein? Ich hob meinen Kopf leicht an und sah, dass ich am Rande eines Lavendelfelds lag. Ich liebte Lavendel. Ich setzte mich nach einer Zeit, in der ich nichts tat, als ein- und ausatmen, auf und sah über das Feld. Es schien endlos und berührte am Horizont den Himmel. Wunderschön. Ich sah mich um, sah über das Feld, in den Himmel, auf den Boden. Irgendwas ist nicht richtig. Dieser kleine Gedanke machte sich in meinem Kopf breit und vergiftete die Ruhe, die ich zuvor empfand. Irgendwas stimmt nicht, doch was war es? Ich schüttelte diesen Gedanken ab, er brachte mich nicht weiter. Seufzend stemmte ich mich auf die Knie und stellte meinen gesunden Fuß, der zwar von Bissspuren bedeckt, aber nicht gebrochen war, auf den Boden und stand so auf. Den gebrochenen Fuß ließ ich in der Luft und stand somit auf einem Bein. So komme ich nicht mal fünfzig Meter weit. "Hallo? Ist hier jemand?", rief ich in die Weiten des Felds hinein. Aber natürlich bekam ich keine Antwort. Ich war hier ganz alleine. Auf einer Anhöhe, die etwas entfernt von mir war, sah ich einen Baum. Ich dachte einen Moment über meine Möglichkeiten nach, doch außer hier bleiben und irgendwann verhungern, oder verdursten, oder versuchen vorwärts zu kommen gab es nichts. Ich sah noch einmal hinter mich, doch alles was ich dort sah, war eine dicke Nebelwand. Als wäre die eine Welt von der Anderen abgeschnitten. Ich wandt mich wieder meinem Ziel zu und begann auf den Baum zuzuhüpfen. Nach kurzer Zeit bemerkte ich schon die Anstrengung und verschwitzt strich ich meine Haare aus der Stirn. Ich hatte nicht einmal die Hälfte des Wegs zurückgelegt. Angestrengt zwang ich mich dazu weiterzumachen und nach einer endlos scheinenden Ewigkeit, kam ich beim Baum an. Ich ließ mich an ihm hinab sinken und lehnte mich mit dem Rücken an seinen Stamm. Müde und durstig wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und ließ meinen Kopf gegen den Baumstamm fallen. Aus dieser Position erkannte ich pinke Früchte, die an dem Baum hingen. Was sind das für Früchte? Ich reckte meinen Arm nach oben und pflückte eine der Früchte, die die Form eines Schmetterlings hatten und sah sie mir genauer an. Sollte ich es wagen? Nach kurzem Zögern biss ich hinein. Als ich mich nicht schlechter fühlte, aß ich das Obst gierig auf und seufzte, bei dem süßlich, aber saftigem Geschmack. Es erinnerte mich an eine Mischung aus Erdbeeren und Orange. Als ich schon zufrieden nach der nächsten greifen wollte, waren sie mit einem mal weiter von mir entfernt.Verwirrt sah ich nach oben, doch es schien so, als würden sie sich immer weiter entfernen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass ich schrumpfte. Was zum..? Meine Glieder fingen an zu brennen und meine Knochen fühlten sich an, als würden sie einzeln brechen. Ich wollte schreien, doch kein Mucks verließ meinen Mund. Schwer atmend richtete ich mich auf und wollte mir mit den Händen über das Gesicht fahren, als mich ein leichter Lufthauch erreichte. Komisch, eben war es doch noch windstill. Ich sah zu meinen Armen, die nicht mehr zu sehen waren. An deren Stelle prangten jetzt überdimensional große Flügel. Daher auch der Windhauch. Sie bewegten sich so, wie ich versuchte meine Arme zu bewegen. Ich sah an mir herunter und was ich dort erkannte, ließ meine Befürchtung wahr werden. Ich war ein rabenschwarzer Schmetterling. Wie konnte das sein? Ich breitete die Flügel aus und versuchte damit zu fliegen. Der klägliche Versuch endete damit, dass ich auf die Nase fiel. Ein Gutes hatte es, da ich keine Füße mehr hatte, war der Eine auch nicht länger gebrochen. Ich richtete mich wieder auf und versuchte die Flügel koordinierter zu bewegen. Nach ein paar weiteren Versuchen klappte es und ich stieg in die Lüfte empor. Nicht soweit, dass ich tatsächlich von fliegen reden konnte, aber hoch genug, um mich nicht im Lavendel zu verheddern. Ich ließ den Baum hinter mir und flog über das Feld. Erschöpft verlor ich immer mehr an Höhe. Lavendel über Lavendel, soweit das Auge reichte. Nichts anderes war zu sehen. Ebenso herrschte hier eine Stille, die nicht zu der Atmosphäre passte. Als gäbe es hier nichts lebendes. Ich riss mich erneut zusammen und flog weiter, doch es hatte den Anschein, als würde ich mich nicht von der Stelle bewegen. Die Stille zehrte langsam an meinen Nerven und als ich nach oben in den Himmel sah, fiel mir auf, dass sich die Wolken nicht bewegt hatten. Sie standen am Himmel. Alles in allem wirkte es, als wäre ich unter einer Kuppel gefangen. Diese Gefühl verstärkte sich noch mehr, als der Baum plötzlich wieder vor mir auftauchte. Das kann nicht sein! Vor Schreck vergaß ich mit den Flügeln zu schlagen und stürzte zu Boden. Es war alles genau wie am Anfang, nur der Nebel war verschwunden und ich begriff, dass ich hier nicht weg kam, indem ich weiter über das Feld hinweg flog. Ich ruhte mich kurz aus und dachte nach. Ich bewege mich im Kreis. Aber wie kann das sein, wenn ich immer geradeaus geflogen bin? Ich sah erneut nach oben. Ich war schon Stunden unterwegs, der Himmel konnte nicht exakt so aussehen, wie vorhin. Was wenn der Himmel nicht der Himmel ist? Vielleicht ist es nur die Illusion eines Himmels. Dann wäre alles hier ebenfalls eine Illusion. Und eine Illusion kann man nur zerstören, in dem man sie stört. Ich versuchte logisch darüber nachzudenken und atmete tief durch die Nase ein, da begriff ich auf einmal, warum ich vorher das Gefühl hatte, etwas wäre falsch. Ich stand mitten in einem Lavendelfeld und es roch nach nichts. Ich riss einen Lavendelstil ab und roch daran. Nichts. Und da wurde es mir bewusst: Hier drinnen war nichts lebendig. Ich atmete tief durch und schob das ungute Gefühl beiseite, welches sich wieder einmal in mir breit machte. Ich stieß mich vom Boden ab und schlug so schnell ich konnte mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Im Gegensatz zum Feld, welches einfach immer weiter wurde, kam mir der Himmel recht schnell entgegen. Ich hatte also recht! Wie ausgefuchst! Wer würde schon rechtzeitig auf die Idee kommen, dass das Feld unendlich war, der Himmel aber zum Greifen nah. Ich sah eine Wolke direkt vor mir und knallte gegen einen Widerstand. Zischend verzog ich mein Gesicht, sah es aber nicht ein aufzugeben. Immer und immer wieder flog ich gegen das Hindernis, bis die Welt von einem Erdbeben erschüttert wurde. "Dummer, kleiner Schmetterling!" Eine dunkle, verzerrte Stimme erklang von überall her und plötzlich erschien ein schwarzes Loch, wie man es aus dem Weltall kannte, am Himmel. Die Welt kippte und ich fiel dem Loch entgegen. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen fing ich mich, bevor ich hinab stürzte. Vor Anstrengung schneller atmend sah ich dem schwarzen Nichts entgegen und erkannte darin einen Lichtschimmer. Das Loch entfernte sich und ich konnte sehen, dass es sich dabei um ein Auge handelte. Erst sah ich nur das Auge, dann eine Nase, schließlich ein ganzes Gesicht. "Wärst besser ruhig da drinnen geblieben", sagte die Stimme, die zu einem alten Mann gehörte. Die Worte klangen weit weg und ein erneutes Erdbeben erschütterte die Welt, in der ich mich befand. Mittlerweile konnte ich feststellen, dass das Erdbeben daher kam, weil der Mann das Gefäß schüttelte, in dem ich mich befand. "Willst wohl wegfliegen? Das kann  ich leider nicht zulassen." Ein düsteres Lachen folgte den Worten. "Was tut man mit Dingen, die man zu verlieren glaubt? Man nagelt sie fest." Ein erneutes Lachen ertönte, gefolgt von einem noch stärkeren Beben. Dann schien einen Moment lang alles still zu stehen, bis die Anziehungskraft alles nach unten riss, als das Gefäß, in dem ich mich befand, zu Boden fiel. Ich hörte das Zersplittern von Glas und hüllte mich instinktiv in meine Flügel ein. Als alles still ruhig wurde, nahm ich die Flügel runter und sah wieder direkt in die Tiefe der dunklen Augen. Nun konnte ich den Mann auch erkennen. Er war alt, hatte graue Haare, die sich langsam lichteten, schwarze Augen, gelbe, auseinanderstehende Zähne und einen grauen Schnurrbart. Sein Gesicht war faltig und schmutzig, seine Klamotten verdreckt und durchlöchert. Eine karierte Hose, die ihm zu lang war wurde von vergilbten Hosenträgern an Ort und Stelle gehalten. Das khakifarbene Hemd war an manchen Stellen eingerissen und steckte unordentlich in der Hose. Auf dem Kopf trug er einen alten Tropenhut, der die besten Tage schon hinter sich hatte. Anders als in der Glaskugel, die ich eben als solch eine identifiziert hatte, konnte ich hier wieder Gerüche wahrnehmen. Und es stank fürchterlich nach Blut, Leder und Eingeweiden. Ich verzog das Gesicht und schlug meine Flügel auf, um hier wegzukommen, da packte mich der Mann an einem der Flügel und hob mich hoch. "Du wolltest doch nicht schon gehen?" Der Mann schüttelte den Kopf. "Komm mit, ich zeig dir meine Sammlung." Schrecken machte sich in mir breit, welcher nicht unbegründet war, wie ich feststellen musste, als der Mann mich in einen dunklen, stickigen Raum brachte. "Willkommen in deinem neuen Zuhause, Schmetterling." Ein Keuchen kam über meine Lippen, als er an einer Schnur zog und die Glühbirne summend den Raum beleuchtete.

Sweet Dreams - In Albträumen gefangen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt