4. Kapitel - Hinter dem Spiegel

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Es ist stets die Stille, die sich ausbreitet wie ein Schatten, der sich über die Welt legt. Und es ist stets die Stille, die ein Unheil verkündet.
Ich legte mein Buch zur Seite und sah an meine Zimmerdecke. Was ist zur Zeit nur los hier? Würde ich die Wahrheit finden? Mit meiner Hand fuhr ich wieder über die Narbe an meinem Brustbein. Würde ich mein Herz nicht kräftig in meiner Brust schlagen spüren, glaubte ich wohl noch daran, dass der Arzt es mir gestern wirklich stahl. Ich dachte auch an Alice. Alice die Puppe, Alice das Mädchen. Gab es eine Verbindung? Ich hing meinen Gedanken weiter nach, als ich ein Klopfen hörte. Doch es kam nicht von meiner Zimmertüre, es kam aus dem Bad. Ich runzelte die Stirn und stand schließlich aus meinem Bett auf. In Gedanken an die letzten Nächte, suchte ich den Raum nach irgendwas, mit dem ich mich verteidigen konnte, ab. Mein Blick fiel auf das Buch. Besser als nichts. Ich schnappte es mir und hielt es wie eine Waffe in beiden Händen. Langsam und leise durchquerte ich mein Zimmer, um ja kein Geräusch zu verursachen. Ich öffnete die Badezimmertüre und schaltete das Licht ein. Nichts. Hier war nichts und niemand zu sehen. Aber woher kam das Klopfen? Ich drehte mich in dem kleinen Bad im Kreis, doch das Klopfen war nicht mehr zu hören. Verwundert ließ ich meine Hände mit dem Buch sinken. Bin ich vielleicht doch verrückt? Ich sah mich in der Spiegelfolie an und versuchte zu erkennen, ob ich verrückt aussah. Eigentlich nicht. Ich sah aus wie jedes andere Mädchen in meinem Alter. Ich ließ meinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen und stolperte erschrocken zurück, als ich beim wieder in den Spiegel schauen, dort ein fremdes Gesicht gesah. Reflexartig hob ich meine Arme mit dem Buch in den Händen wie ein Schutzschild hoch und sah den Fremden mit großen Augen an. Der Fremde verzog den Mund zu einem Grinsen, hob die Hand und klopfte gegen das Glas. Moment Glas? Ja, es war tatsächlich festes Glas an der Stelle zu sehen, an der zuvor nur die Folie war. Wie kann das sein. Das war also das Klopfen, das ich hörte! "W-was Willst du?" Meine Stimme klang unsicher und ängstlich. Konnte man es mir nach den letzten Nächten verdenken? Eher nicht. Der Junge im Spiegel lachte leise und zeigte auf mein Buch, welches ich nun vor mich hielt wie eine Waffe. "Willst du mich etwa mit dem Wunderland töten?" Seine Stimme war sanft und dunkel. Wie ein herber Rotwein. Ich sah auf das Buch und dann wieder zu ihm. Immer noch perplex, weil das Spiegelbild geantwortet hatte, schüttle ich nur den Kopf. "Cataysa, wir haben nicht viel Zeit. Du musst zu mir kommen, bevor sie dich finden." Der Junge legte mit ernstem Blick den Kopf schräg. "Wer? Wer soll mich finden? Und wer bist du? Wo soll ich hin? Und warum sollte ich dir vertrauen?" Ich bombardierte den Jungen mit Fragen und er hob nur eine seiner perfekt in Form gebrachte Augenbrauen. Ich schaute ihn einen Moment einfach nur an. Er hatte gold-braune Augen, die von dichten Wimpern umrandet wurden, zarte Wangenknochen, volle Lippen und gestyltes, kupferfarbenes Haar. Seine Haut sah makellos aus und die klaren Linien ließen ihn arrogant, aber auch mysteriös wirken. "Die sind die Höllenhunde, wie ich sie gerne nenne. Ich bin Adrian. Du sollst durch den Spiegel zu mir kommen. Und vertrauen ist eine Frage des Wohlstands. Also? Kommst du?" Verwirrt versuchte ich Adrians Worten zu folgen. "Ich soll durch den Spiegel? Wie soll denn das funktionieren?" Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das funktionieren konnte. "Öffne den Spiegel und nimm die Tabletten. Die aus der blauen Dosen", antwortete der Junge. Verwundert sah ich zu dem Jungen und wollte ihm erklären, dass da kein Schrank war. Doch als ich weiter in den Spiegel sah, veränderte sich am Rande meines Sichtfelds etwas. Ich trat einen Schritt zurück und sah tatsächlich auf einen Spiegelschrank. Ich verstand es nicht. Das war nicht möglich. Immer noch verblüfft, streckte ich meine Hand aus und berührte den Schrank. Er war wirklich  da. Zögerlich öffnete ich den Spiegel und fand in seinem Inneren zwei kleine Dosen mit einem Schraubverschluss. Wo kommen die nur her? Die Alarmglocken ignorieren, nahm ich die blaue Dose und entdeckte genau eine Pille dort drinnen. "Iss mich", las ich das Etikett laut vor und sah mir die Tablette genau an. Zweifel breiteten sich in mir aus. "Cataysa? Ich weiß es ist alles ganz seltsam, aber du musst dich jetzt beeilen. Sie sind fast da. Cataysa? Catysa!" Der Junge wurde zunehmend unruhiger. "Ja, ich höre dich", antwortete ich schließlich und schloss den Spiegel, in dem ich direkt wieder Adrian sah. Ich schluckte und meine Hand zitterte. Plötzlich hörte ich ein Knurren und Kratzen an meiner Zimmertür. "Sie sind hier! Beeil dich!", trieb mich der Junge an. Schnell schloss ich die Badezimmertüre und ohne groß darüber nachzudenken, nahm ich die Pille in den Mund. Ich drehte am Armaturenbrett vom Wasserhahn und nahm schnell ein paar Schlucke des Wassers zu mir, um die Tablette hinunterzuspülen. "Sehr gut. Heb dich mit beiden Händen am Rand des Spiegels fest." Der Junge im Spiegel zeigte auf die besagten Stellen. Ich tat was er sagte und sah zu ihm. "Und jetzt?" "Und jetzt geht's los." Adrian lachte und lachte. Sein Lachen streichelte meine Haut, lief durch meine Adern und ließ mein Herz schneller schlagen. Mir wurde schwindelig und schlecht. Gerade als ich etwas sagen wollte, brach die Tür auf und ich konnte sie hören, die Höllenhunde. Gleichzeitig begann sich der Raum zu drehen und kippte schließlich einfach. Ich drehte mich mit dem Raum, bis der Boden unter mir war. Dann fiel ich, ich fiel durch den Spiegel.
"Eine nicht wirklich elegante Landung." Höhnisches Gelächter erreichte mich und ließ mich den Kopf heben. Der Junge aus dem Spiegel saß vor mir auf einem Stein. Er trug eine enge, dunkle Hose, ein bunt gemustertes Oberteil und eine Lederjacke darüber. Seine Füße steckten in braunen Boots. Er stand auf, schlenderte zu mir rüber und hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Als ich wieder auf meinen Füßen stand, sah ich mich um. Weit und breit war nichts zu sehen, außer Wiese und Felsen. "Da du ja endlich hier bist und anscheinend auch noch an einem Stück - a very merry unbirthday, Cataysa." Grinsend drückte er meine Hand erneut und ließ sie dann los. Ich sah zu ihm und sagte das einzig logische, was mir in diesem Moment einfiel. "Hä?"

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