9. Kapitel - Experiment 138

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Die Augen des Jungen weiteten sich und ich konnte sehen, wie er versuchte etwas zu sagen, doch die Naht hinderte ihn daran. Als er sich gegen das Hindernis drückte, sah ich den Nagel, mit dessen Hilfe er das Band um seine Augen gelöst hatte. "Adrian, du musst ruhig bleiben", sagte ich, woraufhin er energisch den Kopf schüttelte und etwas murmelte. Er wollte nicht ruhig bleiben, oder wie sollte ich das verstehen? Je mehr Adrian anfing sich zu bewegen und zu wehren, umso unruhiger wurden die Wesen in den Käfigen. Da der Junge anscheinend keine Hilfe war, musste ich selbst einen Weg hier raus finden. Denn eins war sicher, mir lief die Zeit weg.
Ich ließ meinen Blick, soweit es die Fixierungen zuließen, durch den Raum schwenken, um eine Lösung zu finden. Der Junge neben mir, murmelte immer noch etwas, doch ich verstand kein Wort. Das Gemurmel und Genuschel nahm zu, als die anderen Menschen, die ebenso an der Wand festgehalten wurden wie wir, auch unruhig wurden. Die Geräuschkulisse wurde lauter, nahm an Intensität an und hallte von den kalten Steinwänden wieder. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ließ mich erschauern.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Vielleicht einige Minuten, vielleicht auch Stunden. Erschrocken zuckte ich zusammen, als die massive Holztür gegen die Wand knallte und der Gestank von Zigaretten sich zu dem modrigen Geruch, der im Raum stand, hinzugesellte. Cater warf die Zigarette auf den Boden und trat mit einem lockeren Gesichtsausdruck auf mich zu. Er sah zu dem Jungen, dessen Augenfixierung auf dem Boden lag und hob eine Augenbraue. "Eigentlich wollte ich per Zufall entscheiden. Aber nett, dass du dich freiwillig meldest, Junge." Der Mann trat auf uns zu, löste die Ketten von den Metallhaken an der Wand und führte uns, wie zwei Hunde an der Leine, nach draußen. Ich stemmte mich gegen die Ketten, denn so einfach gab ich nicht auf! Cater blieb stehen, sah wütend zu mir und schlug mir mit der Faust ins Gesicht. Keuchend ging ich in die Knie, was den Mann lachen ließ, aber nicht weiter beeindruckte. Er zog einfach wieder an der Kette und zog mich an ihr ein Stück über den Boden. "Moment", keuchte ich und stand auf, damit ich wenigstens aufrecht in mein Verderben gehen konnte. "Deine Arroganz wird dir nicht helfen, Kind", sagte er und lief dann weiter. Ich sah unauffällig zu Adrian, der sich weder wehrte, noch versuchte etwas zu sagen. Jetzt war er also ruhig? Wir betraten den selben Raum wie gestern, doch diesmal war ich gefesselt und keine Tasse Tee stand vor mir. Vor dem großen Fenster stand eine Person in einem knappen Kleid aus weinrotem Stoff, mit Spitzenverzierung am Saum und dem Dekolleté. Die lockige Haarpracht war hochgesteckt und die türkisenen Augen beobachteten uns aufmerksam.
"Cataysa und Milo." Die Frau lächelte und kam auf uns zu. Moment! Wer war Milo? "Wie schön, dass ihr es einrichten konntet." Lachend tätschelte sie meine Wange. "Was willst du von uns?", fragte ich barsch. Das Lächeln der Frau wurde noch breiter und die Augen, die von dichten schwarzen Wimpern umrandet wurden, funkelten glücklich. "Schön, dass du fragst. Ich werde es euch sagen." Sie schnippte einmal und Cater führte uns zum Tisch. Genervt sah ich zu ihr. Sie genoss ihre Rolle sichtlich. "Wie ihr ja wisst, sind meine kleinen Experimente auf ihrem Höhepunkt. Tiere die mit Menschen gekreuzt wurden, Menschen, die Gliedmaßen von Tieren erhielten und sogar genetische Veränderungen, die es erlauben, dass das Kind im Mutterleib schon mit diesen Veränderungen entwickelt wird. Und heute wollen wir etwas Neues versuchen und ihr dürft an dem nächsten weltverändernden Experiment teilhaben. Experiment 138! 137 Experimente haben wir vor euch schon durchgeführt und die Welt so zum Fortschritt gedrängt. Ist das nicht wundervoll?" Aufgeregt sah Evil uns beide abwechselnd an. Die Frau war verrückt! So langsam beschlich mich das Gefühl, dass hier jeder verrückt war. "Ein bisschen mehr Begeisterung hatte ich mir schon erhofft. Nun denn, lasst uns loslegen." Sichtlich enttäuscht verließ sie den Raum und Cater folgte ihr wie ein trainierter Hund. In der Hand immer noch die Ketten, sodass wir ihm auch wie trainierte Hunde folgen mussten.
Evilynne brachte uns in einen Raum, der aussah wie ein Operationssaal. Sie verschloss die Tür, nahm Cater die Kette ab, an der Adrian festgebunden war und befestigte sie am Stuhl, der in der Mitte des Raums stand. Mich befestigte sie am Stuhl ihm gegenüber. Der Raum wirkte steril und auf einem Beistellwagen aus Metall lag verschiedenes Operationsbesteck. Das erinnerte mich unwillkürlich an den Raum, in dem der Doktor mir das Herz entfernt hatte. "Also." Sie zog das O lang und stellte sich zwischen uns. "Wir werden am heutigen Tage versuchen eure Körper miteinander zu verbinden." Verwirrt sah ich zu der Verrückten. "Bitte was?", fragte ich nach. "Ach Cataysa, spiel doch nicht die Dumme. Ich werde Teile von seinem Körper entfernen und genau die selben Teile von deinem Körper entfernen und ihm dann annähen." Ich sog scharf die Luft ein. Das war doch wohl ein Scherz! Ehe ich noch etwas sagen konnte, wurde mir von hinten der Mund verbunden. Cater war also auch noch da. "Damit du mir hier nicht alles zusammen brüllst, Mädchen." Evil klatschte in die Hände, rief Cater zu sich und stellte sich mit ihm vor ein Gerät, das die Aufzeichnungen ihrer Idee zeigte. Sie berieten sich, was sie wie am besten machen wollten. Ich sah zu Adrian, konnte aber nichts mehr sagen. Er erwiderte ruhig meinen Blick und sah zu den beiden, die hinter mir standen. Immer wieder ließ er seinen Blick abwechselnd zu mir und dann zu Evil und Cater schweifen. Ich konnte sehen, wie er seinen Arm anspannte und wieder locker ließ. Irgendwas hatte er vor. Ein konzentrierter Ausdruck trat auf sein Gesicht und ich konnte sehen, wie seine Muskeln im Arm sich anspannten. Dann wie er den Körper anspannte und wie er sich wieder entspannte. Seine Hand schnellte vor und ich spürte den Zug an den Handgelenken, als er meine Handgelenke befreite. Ich sah dorthin und erkannte den Nagel, der vorhin noch in dem anderen Raum aus der Wand heraus geschaut hatte. Nachdem meine Hände frei waren, setzte er sich wieder gerade auf seinen Stuhl, als wäre nichts geschehen. Seinen Mund hatte er allerdings nicht von den Nähten befreit. Als ich das Band um meinen Mund entfernen wollte, schüttelte er energisch den Kopf, sah wieder zu den zwei Verrückten und dann zu mir. Sie sollten nicht merken, dass wir uns befreiten. Als ich seine unausgesprochenen Worte verstand, nickte ich kurz. Sein Gesicht entspannte sich und er nickte mit dem Kopf kurz in die Richtung des Beistellwagens. Ich folgte mit meinen Augen der Bewegung und sah das Skalpell dort liegen. Es lachte mich beinahe an. Ich sah wieder zu ihm und er begegnete mir mit festem Blick. Ich atmete kurz tief durch und griff mir schnell das Skalpell. Mein Puls wummerte und das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Mit zitternder Hand versteckte ich das Skalpell so in meiner Hand, dass es keiner sah. Ich bemerkte erst, dass Evil und Cater still wurden, als sie wieder bei uns standen. "Wir können beginnen! Cater wird als erstes den Brustkorb von Milo öffnen, um das Herz freizulegen. Der Herzkönig wird hoch erfreut sein, wenn er das Herz einfach entnehmen kann, ohne sich seine Hände schmutzig zu machen." Zufrieden erklärte Evil ihren Plan. Sie wollte sich also beim König einschleimen. "In der Zeit werde ich Cataysa den linken Arm abnehmen. Der wird, sobald der König sein Herz hat, an Milos linke Schulter angebracht. Natürlich, nachdem ich seinen eigenen Arm dort entfernt habe." Meine Augen wurden groß, als ich begriff, was sie genau vor hatten. Ich sah zu Adrian, der wie die Ruhe in Person wirkte. Cater beugte sich über Adrian und griff blind nach dem Operationsbesteck. Als er nicht direkt ertastete, was er suchte, ließ er seine Hand über das Besteck streichen. Er hielt inne und wollte sich wieder aufrichten, als er laut aufschrie. Sein Schrei war so schrill und schmerzerfüllt, dass ich erstarrte. "Was ist da los?" Evilynne eilte zu Cater, der sich just in dem Moment umdrehte und uns so sehen ließ, was passiert war. Der rostige Nagel steckte bis zum Kopf im rechten Auge des Mannes. Ich nutzte den Überraschungsmoment und sprang vom Stuhl auf. Ich holte aus und rammte der Frau das Skalpell in den Rücken. Sie ging schreiend zu Boden. "Ihr kleinen Maden!", schrie Evil. Der Junge wartete keine Sekunde länger. Er riss den Schlüssel für die Tür an sich und zog mich mit zu eben dieser. Unter Schock stolperte ich ihm nach, als er die Tür öffnete und direkt hinter mir wieder verschloss. Er hielt nicht einmal kurz inne, ganz im Gegenteil. Er packte meine Hand und rannte los. Ich versuchte mit ihm Schritt zu halten, aber er zog mich eher hinter sich her. Wir durchquerten Raum für Raum, bis wir schließlich das Horrorhaus verließen und in den Garten kamen, den ich vom Salon aus gesehen hatte. Auch als wir draußen waren, wurde er nicht langsamer.
Am Ende des Gartens, der gepflegt und im britischen Stil angelegt war, kamen wir auf eine Straße. Er blieb plötzlich stehen und zog mich an sich, um sich mit mir hinter einem Busch zu verstecken. Er deutete mit dem Kopf auf die Straße und was ich dort sah, ließ mich noch einen Schritt weiter in unser Versteck gehen. Es war der Doktor aus der Anstalt, der mit schnellen Schritten den Weg zum Haus einschlug. Was wollte er hier? Wir warteten, bis der Mann nicht mehr in Sichtweite war und traten dann aus dem Versteck hervor. Ich blickte zu dem Haus zurück, welches die Fassade einer wunderschönen viktorianischen Villa hatte. Von außen so schön, von innen so verdorben.
Der Junge zog mich über die Straße, die den Garten von einem dunklen Wald trennte und lief mit mir in den Wald hinein. Als er der Meinung war, dass wir weit genug von dem Haus entfernt waren, blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Mit geschickten Fingern öffnete er das Halsband aus Stahl und öffnete das Band, welches mir das Reden unmöglich machte. Dann holte er eine kleine Schere hervor, die auch auf dem Beistellwagen gelegen hatte, um damit die Fäden durchzuschneiden, die seinen Mund zuhielten und öffnete die Manschetten aus Stahl, die seine Handgelenke umschlangen. Mit einem weiteren Schritt drängte er mich mit seinem Körper gegen einen Baum, stemmte seine Arme in der Höhe meines Kopfs gegen den Stamm und sah mich eindringlich an. "Und jetzt erklärst du mir, woher du meinen Bruder kennst."

Sweet Dreams - In Albträumen gefangen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt