10. Kapitel - Wald der verlorenen Seelen

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"Dein Bruder?", fragte ich verwundert. "Adrian. Das ist mein Zwillingsbruder." Der Junge, der Adrian glich wie ein Ei dem Anderen, sah mich ernst an. "Adrian ist dein Bruder", murmelte ich und sah ihn mir genau an. "Dann bist du Milo." Spöttisch verzog er die Lippen. "Blitzmerker." Ja, eindeutig Zwillinge. Milo ließ von mir ab und trat einen Schritt zurück. Egal, was ich hier in dieser Schattenwelt erlebte, das nächste, das passierte, setzte immer noch eins oben drauf. Als wäre es ein Wettbewerb. Mal sehen, was die kleine Cataysa alles aushält, bis sie den Verstand verliert. Meine innere Stimme spottete über mich. "Also? Woher kennst du meinen Bruder?" Der Junge vor mir verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich abwartend an. Und so erzählte ich ihm, wie ich Adrian kennengelernt hatte, was seither passiert war und was Evil mir über den Todessumpf erzählt hatte. "Und jetzt stehe ich hier mit dir in diesem Wald und habe keine Ahnung wo ich bin oder wohin ich muss. Aber ich weiß, dass ich dorthin zurück muss und mir die Zeit wegläuft", beendete ich meine Erzählung. "Adrian hätte dich besser dort gelassen, wo du warst. Was hat er sich dabei gedacht, dich einfach mit in diese Welt zu nehmen?" Ich sah ratlos zu dem Jungen, der die gleichen kupferfarbenen Haare hatte wie Adrian. Sogar der Schnitt war derselbe. "Ich habe keine Ahnung. Er hat es mir ja nicht einmal erklärt." Milo schüttelte den Kopf. "Das ist typisch Adrian. Nur Blödsinn im Kopf." Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. "Du bist also auch der Meinung, dass ich in der Anstalt hätte bleiben sollen?" Der Junge nickte. "Auf jeden Fall!" Ein Seufzen entwich mir. "Es ändert nur leider nichts an der Tatsache, dass ich jetzt hier bin und wieder zurück zu diesem Sumpf muss." Ein erneutes Nicken. "Das stimmt wohl. Aber ich muss dir auch danken. Ich habe sehr lange auf eine Gelegenheit gewartet von dort wegzukommen und du hast sie mir geliefert." Ich zuckte mit den Schultern. "Gern geschehen?" Milo lachte und drehte sich dann von mir weg. "Dann lass uns mal gehen. Die Zeit ist knapp, wie du weißt." Ich bejahte und lief neben ihm her durch den Wald. Ich sah immer mal wieder kurz zu ihm und war verwundert, wie ähnlich er seinem Zwilling sah. Nur von der Kleidung her unterschieden sie sich gewaltig. Während Adrian sehr dunkel angezogen war, war Milo heller gekleidet. Er trug eine hellblaue Jeans, ein rotes Polohemd und eine hellblaue Jeansjacke darüber. Die roten Chucks an seinen Füßen, passten farblich zu seinem Hemd. "Pass lieber auf, dass du nicht über deine Füße stolperst", unterbrach er meine erneute Musterung. Ruckartig sah ich auf und dann direkt nach vorne auf den Weg. Ich konnte spüren, wie ich errötete und bekam auch prompt die Bestätigung, dass auch Milo es wahrgenommen hatte, in Form seines Lachens. "Ich bin einfach nur erstaunt wie man sich so ähneln kann." Milos Gesicht wurde wieder ernst. "Nur äußerlich." Ich erwiderte nichts mehr darauf. Ich wüsste auch nicht, was ich sagen sollte. Stattdessen sah ich mir die Umgebung an. Der Wald, der aus Nadelbäumen bestand, wirkte mit jedem Schritt dunkler und bedrohlicher.

 Je weiter wir hinein kamen, desto dichter standen die Bäume beieinander, als wollen sie einen umschließen und festhalten. Auch ein Gefühl der Unbehaglichkeit nistete sich in mir ein, dehnte sich in mir aus verschlang jegliches Gefühl von Freude. Meine Gedanken wurden träger und auch mein Körper wollte sich nicht dazu aufraffen, sich schneller vorwärts zubewegen. Mir wurde unglaublich kalt. Eine Kälte, die meine Glieder ergriff, sich durch meine Adern ausbreitete und meine Seele umhüllte. Meine Schritte wurden langsamer, meine Lider schwerer und meine Haltung ließ nach. Ich blieb schließlich stehen und sah emotionslos zu Milo. "Warum sollten wir weitergehen? Wir können uns einfach hier hinsetzen und ausruhen." Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen. Jedes Einzelne war anstrengend und kostete Kraft. Der Junge sah mich nachdenklich an und als ihm bewusst wurde, dass es mir nicht gut ging, kam er auf mich zu. "Cataysa, du musst dich zusammenreißen." Ich sah müde zu dem Jungen mit dem kupferfarbenen Haar. "Wofür?" Ich konnte seinen Worten nicht folgen, sah nur, wie er seine Lippen bewegte. Andere Stimmen vermischten sich mit den Klängen des Waldes. Zwischen dem Wind, der durch die Baumwipfel wehte, hörte ich ein kleines Mädchen. "Niemand wird kommen. Es wird mich keiner finden. Alleine.. Verlassen." Ich konnte die Hilflosigkeit hören und ich konnte sie in mir spüren. Ich konnte das Schreien von Vögeln hören, hörte, wie sie eilig davon flogen und sah zum Himmel hinauf. Doch ich konnte den Himmel nicht erkennen. Zu dicht standen die Fichten, Tannen und Kiefern beisammen. Das Krächzen einer Krähe ertönte, sie flog ihre Kreise über uns. Der Todesbote. Das Atmen fiel mir schwer, als würde eine Last auf meine Lungen drücken. Ich konnte fühlen, wie ich geschüttelt wurde und sah wieder zu Milo, der mich ernst ansah. Seine Lippen bewegten sich erneut, aber auch jetzt konnte ich ihn nicht hören. Ich sah auf seinen Mund und versuchte etwas zu verstehen. Gefahr? Ich konnte das eine Wort von seinen Lippen ablesen. Waren wir in Gefahr? "Angst. Sie verschlingt mich. Es ist so dunkel. Der Wald ruft, er ruft nach mir." Es war die Stimme eines Jungen, die ich hörte. Ich bewegte langsam meinen Kopf, versuchte den Jungen ausfindig zu machen, den ich sprechen hörte. Doch er war nicht da. Gefahr. "Spürst du sie auch, diese Kälte? Keine Wärme mehr. Nichts ist mehr zu spüren", sagte eine Frau, die ich ebenso wenig sehen konnte, wie den Jungen zuvor. Der Wind nahm zu, pfiff durch die Bäume, zog an den Ästen und ließ sie ächzen. "Müde. Ich bin so müde. Ich habe den Weg verloren. Bist du auch so müde wie ich?" Die Stimmen klangen verzerrt, als würden sie ihren Weg durch einen unsichtbaren Vorhang finden. Und ich konnte sie spüren. Die Kälte, die Müdigkeit, die Angst, die Dunkelheit. Alles was ich hörte, konnte ich auch fühlen. Der Wald verschlingt mich. Der Junge sagte es. Meine Beine gaben nach, konnten mich nicht mehr halten und so fiel ich zu Boden. Ausgestreckt lag ich auf der Seite, meine Wange berührte den kalten Waldboden. Und da sah ich sie. Sie waren dunkel, so dunkel, dass sie keinerlei Leben austrahlten. Es waren nur Silhouetten, aus tiefstem Schwarz. Sie waren verschwommen und bewegten sich im Wind. Sie hatten weder ein Gesicht, noch hatten sie Arme, oder Beine. Sie schwebten einige Zentimeter über dem Boden. Wellen der Trostlosigkeit überollten meinen Körper. Sie kamen näher, schwebten direkt auf mich zu und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Je näher sie kamen, desto stärker wurden diese Gefühle, die mich von innen heraus zerfraßen. Sie nahmen mir jedes positive Gefühl, das jemals in mir existiert hatte und ließen eine tiefe Leere zurück.

Sweet Dreams - In Albträumen gefangen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt