Kapitel 4

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22. April, Donnerstag

Heute hatte ich meine letzte schriftliche Prüfung. Erleichtert seufze ich aus und schmeiße mich auf mein Bett. Endlich kann ich mal nach langem wieder ausschlafen. Meine Oma hat wie immer genüsslich gekocht, weshalb ich meine Hände wasche und mir anschließend etwas von der Linsensuppe schöpfe. Am Esstisch lasse ich mich nieder und gönne mir die Suppe. „Hast du dich schon in München beworben?", frägt meine Oma und strickt konzentriert. „Nein. Erst wenn ich mein Zeugnis bekomme. Kriege ich eine Woche vor der Bewerbungsfrist." Ich schlürfe weiterhin meine Suppe. Sie nickt. „Weisst du wer mich heute angerufen hat?" Meinen Kopf hebe ich an und sehe sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Wenn sie jetzt den Namen meines Vaters ausspricht, dann drehe ich komplett am Rad. Mein Herz rattert schon förmlich. Nach dem Vorfall an meinem Geburtstag hat er sich von uns fern gehalten. Schließlich habe ich ihm gedroht und ich würde mich wirklich mit Hand und Fuß wehren, das weiß er ganz genau. Trotzdem habe ich wegen ihm Albträume. Manchmal träume ich, dass er in die Bude einbricht und für Unruhe sorgt. Am Ende wache ich dann schweißgebadet auf und bin froh, dass es nur ein Albtraum war. „Wer?", frage ich etwas beunruhigt. „Nedim" Nedim? „Mein Onkel?", spreche ich meinen Gedanken laut aus. Der Bruder meiner Mutter. Mein Gesicht zeigt Verblüffung. Ungewollt muss ich mich an den schrecklichen Moment erinnern. Wie er mich vor meinem Vater schützen wollte und heimlich in ein Heim gebracht hat. Damals war ich dreizehn. Natürlich wusste ich nichts von seinem Vorhaben. Wie ich ums Verrecken geschrien habe als er mich dort ablassen wollte, bis dann meine Oma kam und mich quasi gerettet hat. Naja, ich weiß ja, dass er es gut gemeint hat. Mein Vater hätte es so oder so nicht zugelassen. Er wollte mir ja auf seiner Art und Weise die Hölle heiß machen. Anneanne nickt, schaut aber immer noch angestrengt auf ihre Stricknadel. „Was meint er?", krame ich weiter nach. Ich glaube, dass ich ihn zuletzt vor einem Jahr an Omas Geburtstag gesehen habe. Er wohnt in Nürnberg, deshalb ist er selten hier. Und wenn er dann mal da war, war ich wahrscheinlich nicht bei Oma. „Er hat erzählt, dass Ipek auch in München studieren möchte." Nun heben sich meine Augenbrauen und ein leichtes Lächeln schmückt Lippen. Ipek ist meine Cousine. Wir sind zusammen aufgewachsen, sie waren oft bei uns. Bei Oma haben wir uns auch oft gesehen. Aber dadurch, dass sie weiter weg wohnen und mein Vater so ein unkultivierter und asozialer Mensch ist, brach mein Kontakt zu ihnen ungewollt ab. „Ach echt. Und was?", frage ich neugierig, schiebe meinen leeren Teller bei Seite und widme meine volle Aufmerksamkeit meiner Oma. „Tiermedizin glaube ich, irgendwie sowas." Ipek hatte schon immer ein Herz für Tiere. Sie hat sich sogar in Mersin in der Türkei immer getraut die Straßenhunde zu streicheln und zu füttern. Ich hingegen war scheu und bin immer weggerannt. „Vielleicht könnt ihr ja zusammen wohnen?", hebt nun Anneanne ihren Kopf und prüft meinen Blick. „M-mir würde es nichts ausmachen. Also wenn sie möchte, wieso nicht?", stottere ich leicht. Was wenn sie nichts davon weiss? Ach, Oma wird schon wissen was sie da tut.

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Mein Wecker reißt mich aus meinem traumlosen Schlaf. Ich strecke mich und stehe auf. Es sind ein paar Wochen nach dem Telefonat vergangen. Heute fahren wir nach München zur Universität wegen der Informationsveranstaltung. Mit meinem Onkel und Ipek treffen wir uns dort, da wir auch noch Wohnungen besichtigen werden. Lieber zu früh, als zu spät. Und falls es nichts wird, können wir auch frühzeitig absagen. Mein Onkel hat ein paar Wohnungen ausgesucht hat mir Anneanne erzählt. Als ich meine Zähne fertig geputzt habe stelle ich mich an meinen Schrank. Meine Klamotten sind irgendwie so.. eintönig? Ich sollte mein Geld sparen und dann mit Anneanne shoppen gehen! Genau, das mache ich. Dann kaufe ich mir vielleicht mal etwas knalligeres. Ich ziehe meine blaue Mom Jeans aus dem Schrank, welche Risse in den Knien hat. Dazu ein weißes oversized T-Shirt. Meine langen, hellen, karamellbraunen Haare binde ich zu einem hohen Zopf, behalte aber hierbei meinen Mittelscheitel. Ich habe Glück, von Natur aus schöne, dunkle und dichte Wimpern zu haben. Meine Augenbrauen und Wimpern kämme ich ebenso mit einem geeigneten Kamm und trage ein wenig Concealer auf, da meine Augenringe mich etwas stören. Meine grün braunen Augen kommen somit besser zur Geltung. Zufrieden laufe ich ins Wohnzimmer. Ich setze mich an den Esstisch und fange an zu frühstücken. „Günaydin", wünsche ich den beiden einen guten Morgen. „Günaydin Schlafmütze", grinst Dede. Mein Opa schaut sich wie immer die Zeitung durch und Oma schenkt mir Tee ein. Nachdem wir alle gegessen haben, packen wir unsere Jacken und laufen zum Auto runter. Als wir endlich bereit sind, fährt Opa auch schon los. Ich stecke meine Kopfhörer in meine Ohren und höre zum Einstieg Bläulich von Apache an. Ich beobachte viele Autos und träume währenddessen. Die Fahrt dauert dreiundhalb Stunden. Mal sehen, ob mir die Universität gefallen wird.
Nachdem wir einige Zwischenstopps eingelegt haben, kommen wir endlich in München an. Ich sehe schon die Universität aus dem Fenster. „Wow", hauche ich leise. Ich werde, natürlich wenn alles gut läuft, vierundhalb Jahre meines Lebens hier verbringen. Werde ich das überhaupt hinkriegen? Ja bestimmt. Oder? Ich darf mir keine zu großen Sorgen machen. Aller Anfang ist schwer, irgendwie wird das schon. Wir steigen aus und sind nun an der Universität. „Nedim kommt gleich. Dann könnt ihr mit Ipek rein und die Universität betrachten." Ich nicke freudig. „Anneanne glaubst du ich schaffe das überhaupt?", überkommen mich plötzlich meine Selbstzweifel. Meine Oma schaut streng. „Sag sowas nicht! Natürlich schaffst du das. Du bist zielstrebig und erreichst alles was du möchtest. Daran glaube ich fest.", versichert sie mir und nimmt mein Gesicht in ihre Hände. Ich presse meine Lippen aufeinander und forme sie zu einem traurigen Lächeln. „Ah da ist er!", sagt Opa und läuft auf ein recht neues Auto zu. Eine gewisse Nervosität füllt meinen Körper. Onkel Nedim steigt au und umarmt innig meinen Opa, im Anschluss meine Oma. Nun bin ich an der Reihe. Ich versuche Blickkontakt zu meiden. Irgendwie fühle ich mich komisch. „Wie groß du geworden bist", flüstert mein Onkel. Ich lächele nur verlegen. Was will man denn auch sagen? Er ist aufjedenfall älter geworden. Leichte Fältchen haben sich an seinen Augen gebildet. Er kommt auf mich zu und zieht mich unerwartet in eine innige Umarmung. Die Situation überfordert mich ein wenig, am liebsten würde ich mich hinter Oma verstecken. Ohne dass ich seine Umarmung erwidern kann, löst er sich von mir. Alle Blicke sind auf uns gerichtet. Onkel Nedims Augen sind gefüllt. „Du ähnelst Melek.", gibt er nun etwas betrübt von sich und hält seine rechte Hand ein sein linkes Auge. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet, wirklich? Ich sehe meiner Mama ähnlich! Innerlich mache ich Saltos und lächele wahrscheinlich sehr stark gerade. „Hey" Ich drehe mich zur Person die redet um und sehe ein schönes Mädchen. Das ist Ipek, erkenne ich an ihrem Lächeln. „H-hey", sage ich kleinlaut. Sie läuft erst zu meinen Großeltern, begrüßt sie und läuft nachfolgend auf mich zu. Ihre Arme streckt sie aus. Da ich, außer mit meinen Großeltern und den paar Leuten aus der Schule, mit niemanden etwas zu tun habe, irritiert mich die ganze Situation etwas. Es kommt mir so .. unbekannt vor? Auch wenn es eigentlich meine Familie ist. Trotz dessen erwidere ich die Umarmung und lächele sie im Anschluss an. „Du bist noch viel hübscher geworden", sagt sie. Alle beobachten uns lächelnd. Ich bedanke mich nur.
Nach einem kurzen Gespräch laufen wir mit Ipek ins Gebäude und suchen den Saal, wo die Informationsveranstaltung stattfindet. „Wie alt bist du jetzt?", fragt sie mich als wir uns auf die Holzstühle setzen. Ihre mittellangen dunklen Haare schiebt sie über ihre linke Schulter und schaut mich erwartungsvoll an. „Achtzehn. Und du?" „Hah! Ich bin 19!", lacht sie freudig auf. Ich schmunzele nur. „Du willst Tiermedizin studieren richtig?", frage ich obwohl ich die Antwort kenne. „Ja, unbedingt. Ich hoffe die nehmen mich.", quengelt sie etwas. „Wieso sollten sie nicht?" „Ich weiss nicht, du weisst doch wie schwer es ist da rein zu kommen." Ich nicke bloß. „Das wird schon. Versuch nur deine Noten zu halten." Sie seufzt. „Und du? Willst dein Versprechen an Hala erfüllen habe ich recht?", lächelt sie, beugt sich vor und stützt ihre Ellenbogen auf ihren Knien ab. Ihre Hala ist meine Mutter. „Natürlich.", gebe ich stolz nickend von mir. Plötzlich kommt mir etwas aus unserer Kindheit in die Gedanken, weshalb ich lachen muss. „Wieso lachst du?", fragt Ipek neugierig. „Weisst du noch als du dachtest dass meine Mutter Hala heisst?" Ich muss noch mehr lachen. Ipek stimmt mit ein. „Oh mein Gott! Ja, du hast mich so ausgelacht und dann war ich sauer auf dich!", lacht sie noch mehr und nickt. „Wie alt waren wir da?", krame ich lächelnd nach. „Ich glaube sieben.", antwortet Ipek und seufzt erleichtert aus. „Das waren noch schöne Tage.", gebe ich weniger freudig von mir und verliere langsam mein Lächeln. Zum Glück beginnt aber die Präsentation des alten Herren vorne, weshalb ich nicht in meine Gedanken versinke und mit Tränen kämpfen muss.

„Ich hoffe wir werden beide genommen! Das wäre so krass!", träumt Ipek als wir bei der ersten Wohnung ankommen. Wir werden alle herzlichst begrüßt und können eintreten. Die Wohnung besteht aus drei Zimmern. Wenn wir möchten können wir noch jemanden nehmen, meint der Vermieter. Jedoch lehnt mein Onkel ab. „Ihr könnt ja ein Wohnzimmer haben und eure eigenen Zimmer. Oder?", fragt er uns. Wir bejahen beide und laufen weiter. Die Küche ist nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Ein kleiner Tisch würde sogar rein passen. Anschließend kommen wir im Bad an, welches sich als sauber aufweist. Wir bedanken uns und gehen weiter. „Ich fand's ganz gut.", sagt Anneanne ihre Meinung. „Mir hat's auch gefallen.", bestätigt Ipek.
Bei der nächsten Wohnung angekommen, wiederholt sich das ganze von eben. Jedoch hat diese Wohnung ein paar Macken, weshalb wir direkt zur nächsten Besichtigung fahren. Angekommen steigen wir die Treppen bis in den zweiten Stock. Leider hat dieses Haus keinen Aufzug, was aber meiner Meinung nach halb so wild ist. Angekommen  begrüßen wir die freundliche Dame und treten hinein. Sie erklärt uns wichtige Details während wir mit Ipek in der Wohnung rumlaufen. „Die Zimmer sind größer als die der anderen Wohnung.", nuschelt sie. „Ja und es hat auch eine größere Küche.", ergänze ich. Sie nickt mit großen Augen. Die Wohnung hat ebenso drei Zimmer. Eins wäre unser Wohnzimmer und die anderen beiden unsere jeweiligen Zimmer. Was dieser Wohnung noch ein Plus verleiht ist, dass sie nah an der Universität ist. Sie ist aber auch dementsprechend teurer. Ich kann froh sein meine Oma und meinen Opa hinter mir zu haben. Ohne die beiden könnte ich nichts meistern. Dede kommt zu mir und fragt ob die Wohnung mir gefällt. „Ja Dede", lächele ich. Ich laufe auf ihn zu und umarme ihn. „Danke für alles.", sage ich meinen Gedanken laut. „Ohne euch wäre ich aufgeschmissen.", ergänze ich. Er erwidert meine Umarmung und tätschelt meinen Kopf. „Gerne Yadem. Das ist das Mindeste.", sagt er und küsst meine Stirn. Muss ich immer so emotional werden? Meine Tränen versuche ich zu unterdrücken. Wir laufen nachdem wir uns gelöst haben rein zu den anderen. „Yade du findest es hier auch am besten oder?", fragt Ipek ungeduldig. Ich sehe abwechselnd in die ganzen Augenpaare, die mich anstarren. „Ja es ist schön und nah an der Uni." Mein Onkel nickt. „Okay, dann werde ich mich so bald wie nur möglich bei Ihnen melden. Vielen Dank für die tolle Beratung.", beendet Onkel Nedim die letzte Besichtigung. Wir laufen alle gemeinsam runter. „Sollen wir noch etwas essen bevor wir uns trennen?", frägt Dede nun. Wir stimmen alle zu und fahren dann in das nächstbeste Restaurant.
Ipek ergreift die Initiative und lässt sich neben mir im Restaurant nieder. Zwischenzeitlich schiebt mir ihr Handy zu. „Gib mir deine Nummer, dann halte ich dich auf dem laufenden." Ich tue was sie sagt und gebe dann ihr Handy zurück. „Schreib mir damit ich dich einspeichern kann." Nach nicht mal einer halben Minute empfange ich auch schon eine Nachricht. Schnell speichere ich sie ein und lege anschließend mein Handy weg. „Überleg mal wie das wäre würden wir zusammen wohnen..", erzählt Ipek verträumt. „Ich glaub du würdest genau so wie früher immer mit mir schimpfen, weil ich so unordentlich bin.", lacht sie nun auf. „Ich kann nicht wie früher alles alleine machen, du musst mir helfen Ipek", sage ich gespielt böse, was sie lachen lässt. Ipek ist mein komplettes Gegenteil. Sowohl äußerlich als auch charakterlich. Sie hat nämlich dunkelbraune mittellange Haare, einen etwas dunkleren Teint und dunkelbraune Augen und Augenbrauen. Sie ist auch ein Tick größer als ich. Okay das ist zwar nicht schwer, aber trotzdem. Während sie eher eine extrovertierte Person ist, bin ich Fremden gegenüber introvertiert. Am Anfang bin ich immer etwas zurückhaltend und verschlossen. Nach einer bestimmten Zeit zeige ich dann mein wahres Ich. Aufgedreht, launisch, temperamentvoll und lustig. Aber ich glaube, dass Ipek und ich uns wie in alten Tagen gut verstehen werden.

Man sagt nicht umsonst, dass sich Gegensätze anziehen und gut verstehen.

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Habt ihr Namensvorschläge? Denn in den nächsten Kapiteln brauche ich einige... 😉

-Mel

Zu zweit alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt