Kapitel 9

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Manchmal tut man Dinge im Leben, die man eigentlich nicht tun würde. Das ist meiner Meinung nach die Ironie des Schicksals. Ich wollte doch gar keine Freunde haben, niemanden Vertrauen. Einen besten Freund habe ich, zwei andere Freunde auch. Als würde das nicht genügen, sitze ich hier in Kenans Auto und lasse mich von ihm irgendwohin fahren. Das ist doch Vertrauen, oder? Auch wenn nur bisschen. Oder habe ich einfach nichts mehr zu verlieren? Ich weiß es nicht. Das einzige was ich weiß ist, dass ich psychisch am Ende bin. Meine Periode die ansteht macht alles nur schlimmer. Da bin ich immer sehr emotional und sensibel. Ich hätte mich wehren und nicht mit Kenan mitgehen können, aber ich habe mich weder gewehrt noch es nicht gewollt. Niemals könnte ich so in die Vorlesungen, ich wäre zusammengebrochen. Er kam zur perfekten Zeit und hat mir einen Weg gezeigt, während ich nicht wusste wo lang es geht. Wohin wir gehen weiß ich immer noch nicht. Gedankentrunken sehe ich aus dem Fenster und denke über vieles nach. Plötzlich fällt mir ein, dass Ayaz meine Tasche hat. Scheisse, mein Handy ist auch drin! Dann muss wohl Kenan übernehmen. „Ayaz hat meine Tasche und wartet in der Mensa auf mich.", lasse ich ihn schwach wissen. Er lenkt um die Kurve und greift nach seinem Handy. Ayaz wird angerufen und geht direkt ran.

„Hallo?"

„Was machst du?", fragt Kenan.

„Mit Yades Tasche auf Yade warten."

„Sie ist mit mir, nimm die Tasche mit nach Hause. Wir sehen uns dort.", informiert er Ayaz in Sekundenschnelle.

„Wie? Freiwillig? Niemals!", gibt er erschrocken von sich, was mich schwach schmunzeln lässt.

„Ciao Ayaz.", seufzt Kenan genervt und legt auf.

Ayaz will was ansetzen, doch scheitert beim Versuch. Kenan legt nämlich ohne zu warten auf. „Danke", sage ich kleinlaut. Er nickt nur mit seinem Kopf, verliert seinen Blick aber nicht von der Straße. Das soll wohl bitte heißen. Als die Fahrt endlich endet, steigen wir beide aus. Ich bin umgeben von tollem Gebirge. Es windet sehr stark, weshalb ich es bereue keine Jacke anzuhaben. Kenan läuft etwas vor, woraufhin ich ihm folge. Die Aussicht lässt meinen Atem stocken, es sieht wunderschön aus. Wir sind an einer Klippe und haben eine tolle Aussicht. Die Stadt liegt uns wortwörtlich zu Füßen, wir sind sehr weit oben. Noch weiter vor zu gehen traue ich mich nicht. Ich habe Angst mein Gleichgewicht zu verlieren und von diesem hohen Ort zu fallen. Kenan scheut sich nicht und läuft weiter vor. „Warum sind wir hier?", möchte ich wissen. Meine Haare wedeln hin und her, der Wind peitscht gegen mein Gesicht. „Um dich zu entlasten.", sagt Kenan und läuft zurück zu mir. Meine Augenbrauen ziehen sich automatisch zusammen weil ich nicht verstehe. „Wenn ich Frust abbauen will und wirklich mein Limit an Wut erreicht habe, komme ich hier her.", erzählt er mir und sieht in meine Augen. Mein Blick ändert sich kein bisschen. „Vielleicht wirst du es dumm finden, aber es tut gut.", öffnet er sich. „Und was genau lässt dich gut fühlen?", hake ich nach. „Schreien." Sein Blick gilt nun der Aussicht. „Ich schreie und stelle mir vor, dass der Wind all meine Wut mitnimmt." Sehr philosophisch. Er schließt seine Augen, während ich wieder die Aussicht bewundere. Plötzlich fängt er an zu schreien, weshalb ich mich ungewollt erschrecke und kurz zusammenzucke.  Dann beruhigt er sich und sieht außer Atem zu mir. „So in etwa. Probier's, ein Versuch ist's wert." Er tretet etwas zurück und ich ein Stück weiter vor. „Geh nicht zu weit vor.", sagt er warnend. Nun stehe ich etwas weiter vor der Endung und versuche nicht runter zu sehen. Ein kribbelndes Gefühl überfährt meinen ganzen Körper. „Keine Angst.", sagt er nun etwas lauter. Ich nicke nur und versuche nicht zu kippen. „Jetzt musst du all deine Probleme vor deine Augen führen." Ich schließe meine Augen damit ich mich besser konzentrieren kann, da ich mich etwas schäme. Das vorherige Geschehnis spielt sich in meinen Gedanken ab. Melissa hat mich gepackt und wollte mir dann etwas vorwerfen. Ich hasse es, wenn man zu Unrecht verurteilt wird. Was mich noch mehr aufregt sind meine ganzen Versprechen an mich selber, welche ich nicht einhalte. Ich wollte keine Freunde, keiner durfte mich je wieder anpacken oder schlagen und Vertrauen wollte ich an erster Stelle nicht. Warum halte ich keines meiner Versprechen ein? Warum geht das nicht? Meine Hände ballen sich automatisch zu Fäusten und mein Atem wird lauter, doch wegen dem starken Wind hört man ihn nicht. „Und sobald du wütend genug bist, schreist du die Wut weg.", erklärt Kenan weiter. Meine Gedanken häufen sich, alles mischt sich. Meine Gefühle, meine Gedanken. Das gestrige Telefonat fällt mir ein, was mich noch wütender macht. Wie kann er sich noch trauen nach mir zu fragen? Was möchte er bereden? Nach all dem Leid, all dem Kummer möchte er allen ernstes mit mir reden? Nein, danke! Was er wohl mit seiner Frau treibt? Ob Berk zu ihnen gezogen ist? Ungewollt denke ich an meinen achtzehnten Geburtstag. Wie naiv ich war und dachte, dass er mir gratulieren würde. Ich habe mich nach seiner Zuneigung gesehnt. Von dem Mann, den ich doch eigentlich so sehr hasse? Er hat mir doch das Leben zur Hölle gemacht. Ich erinnere mich an die Schläge, Tritte und den psychische Druck als wäre es gestern gewesen. Niemals darf ich ihm verzeihen, nein! Meine Wut sammelt sich und trifft den Höhepunkt, weshalb ich lauthals anfange zu schreien. „Sehr gut.", höre ich Kenan sagen. Ich bin doch eigentlich befreit, warum fühle ich mich dann noch gefangen? Wieso kann das alles nicht aufhören? Warum muss ich immer leiden? Noch ein lauter Schrei entkommt mir, meine Augen öffnen sich. Meine Fäuste lockern sich, meine Wut entfacht. Wenn meine Mutter da wäre, wäre alles anders verlaufen. Sowas wäre niemals passiert. Sie hätte mich beschützt, oder? Ich fasse mir in meine Haare und atme schneller. Warum Anne, wieso bist du gegangen? Genau dann als ich dich gebraucht hätte. „WARUM?", schreie ich noch lauter und werde sehr emotional. Mein Herz schlägt und mein Blut kocht, während meine Beine wackeliger werden. Das wird mir alles zu viel. Ich bin gerade so schwach, trotzdem denken alle, dass ich immer stark bin. Wenn man niemanden hat und alles alleine durchmachen muss, hat man leider keine andere Wahl. Die ganzen Belastungen werden mit der Zeit zur Angewohnheit. Dass psychische Schäden bleiben, interessiert keinen. Man ist komisch, weil man mit keinem reden möchte. Was ich nicht alles an den Kopf geworfen bekommen habe. Ich erinnere mich, als meine Mutter mich beschützt hat. Vor alles und jeden. Ich habe mich so stark gefühlt und so kräftig als sie in meiner Nähe war. Keiner konnte mir etwas, ich habe nur sie benötigt. Jetzt fühle ich mich so brechbar, dünn und schwach. Noch ein lauter und entlastender Schrei verlässt meinen Körper, woraufhin ich anfange zu weinen. „Ich würde alles tun damit du zurück kommst.", flüstere ich in meine beiden zittrigen Hände, welche sich vor meinem Gesicht befinden. Ich lasse mich auf meine Knie fallen. Wie ein kleines Kind weine ich. Dass Kenan mich so sieht, interessiert mich herzlichst wenig. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich weiß, dass es seine ist, doch drehe mich nicht um. Ich schluchze und weine auf dieser Klippe. Ich bin nur zwei Schritte von meiner Mutter entfernt, was hält mich noch hier? Ich schlürfe etwas weiter nach vorne und sehe mir die Stadt genauer an. Plötzlich greift Kenan unter meinen Arm und zieht mich zu sich hoch. Ich stehe wieder, doch meine Beine sind immer noch sehr schwach. Er zieht mich sofort zurück und entfernt mich von der Klippe. „Das war knapp.", seufzt er. Ohne, dass ich reagieren kann zieht er mich in seine Arme. Eine Hand legt sich auf meinen Kopf, die andere auf meinen Rücken. „Mach das nie wieder." Er hört sich gestresst an. Meine Hände befinden sich an meiner Brust. Mein Weinen wird weniger und hört langsam auf. Er streichelt behutsam über mein Haar und legt sein Kinn auf meinen Kopf. In dieser Position verharren wir für einige Minuten. Eigentlich will ich mich befreien, aber irgendwas hält mich fest. Es tut gut. Ich spüre wieder diese Geborgenheit. Nach einiger Zeit lösen wir uns. Ich habe mich etwas beruhigt und gesammelt. „Würdest du das wirklich tun?", will Kenan nun wissen. Er schaut etwas zögernd und kann den Blickkontakt schwer halten. Er meint, ob ich mich von der Klippe stürzen würde. Vorhin war ich nämlich sehr nah an der Geländerkante. „Zu verlieren habe ich nichts.", gebe ich monoton zu. Ob es seine Frage beantwortet, weiß ich nicht. Ohne sein Gesicht auch nur ansatzweise zu bewegen, sieht er mich an. Er mustert mich und versucht irgendwas von meinen Augen abzulesen. Ich bemerke das ganz schnell und laufe deshalb auf Kenans Auto zu. Schnell steige ich ein und reibe meine Hände aneinander und klemme sie dann zwischen meine Oberschenkel. Kenan steht noch dort und rührt sich nicht von Fleck, doch kurze Zeit später gesellt er sich zu mir. Ohne Worte fährt er los. Keiner redet, es herrscht eine angespannte Stimmung. Ehrlich gesagt möchte ich nichts sagen, er hat mich in meinem schlimmsten Zustand gesehen und unterstützt. Noch nie habe ich jegliche Unterstützung von irgendwem bekommen. Immer habe ich alles alleine geregelt. Es ist komisch Hilfe zu verspüren. So ungewohnt und.. neu. Wieso hat er mir überhaupt geholfen? Wir mögen uns doch eigentlich nicht? Nach der stumm verlaufenden Autofahrt kommen wir bei den beiden an und fahren mit dem Aufzug hoch. In der modernen Wohnung angekommen ziehe ich meine Schuhe aus und steuere auf das Wohnzimmer. Auf Kenan warte ich gar nicht, weil ich mich immer noch schäme. Ich hoffe, dass er wenigstens das nicht bemerkt. Ich werfe mich auf die schwarze, riesige Couch und ziehe meine Beine an mich ran. Kenan läuft erst in sein Zimmer, kommt dann aber netterweise zu mir. Ich fühle mich irgendwie schuldig. Er musste das alles nicht tun, trotzdem hat er mir geholfen. Er läuft mit zwei Gläsern und einer Wasserflasche auf mich zu. Er setzt sich auch auf die Couch und schenkt uns beiden etwas ein, ehe wir unser jeweiliges Glas austrinken. „Danke", sage ich kleinlaut. Ich bin so scheiße in sowas! Ich hoffe er hat mich gehört. Kenan sieht kurz zu mir. „Willst du mehr?" Er denkt ich bedanke mich für das Wasser. „Ich meine wegen heute. Danke, dass du mir geholfen hast." Er blickt mich etwas länger als gewöhnlich an und wendet sich dann zum Fernseher, welchen er anschaltet. „Ich habe nichts getan.", sagt er gelassen. „Natürlich?", gebe ich entgeistert von mir. „Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn du mich nicht abgefangen hättest.", seufze ich nun. „Deshalb danke ich dir echt.", versichere ich ihm noch mal. Er nickt wieder nur. Er widmet sich dem Fernseher und redet kein Wort mehr mit mir. Komischer Typ. Es ist so langweilig ohne Handy, wieso schleppe ich es auch nicht mit mir? „Wie viel Uhr haben wir?", frage ich ihn nun. „9:12 Uhr." Ayaz kommt erst in 4 Stunden. Toll! Was soll ich so lange machen? Ich seufze genervt auf während Kenan seine Serie weiter schaut. Ich glaube er guckt Elite. Da ich keine andere Wahl habe, widme ich mich auch dem Fernseher und schaue mit Kenan seine Serie. Nach drei Folgen stoppt Kenan die Serie und dreht sich zu mir. „Hast du Hunger?" Ehrlich gesagt ja. Ich habe komischerweise Angst diese Frage zu beantworten. Hängt wohl mit dem einen Streit zusammen. Ich grübele kurz und weiche seinem Blick aus. Danach nicke ich vorsichtig und schaue ihm ganz langsam in die Augen. Er versteht und steht auf. Schnelle tue ich es ihm gleich und tapse ihm hinterher. „Darf ich dir helfen?", frage ich zögernd. Schließlich muss ich mich irgendwie bedanken. Er dreht sich zu mir und schüttelt den Kopf. Was erwarte ich denn auch? Blöd, dass ich überhaupt dachte ich könne helfen. Ich beiße auf meine Zähne und spiele nervös mit meinen Fingern. „Isst du Toast mit Käse und Sucuk?" Er sieht mich abwartend an. Mein Blick hebt sich. Ich nicke schlagartig. Dass ich nicht jeden Käse esse erwähne ich lieber nicht. Ich mochte ihm keinerlei Umstände bereiten. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Toastbrote auf den Tresen legt und anfängt Butter darauf zu schmieren. Interessiert sehe ich ihm zu und verpasse keine Sekunde. Als er seinen Kopf hebt und mir in die Augen schaut, schnellt mein Blick automatisch auch zu ihm. „Zwei?" Ich nicke wieder. „Du kannst auch schon rein." Er widmet sich wieder den Toasts und arbeitet weiter. Ohne Mucks laufe ich zurück in das Wohnzimmer und setze mich auf die Couch. Wieso erlaubt er nicht, dass ich ihm helfe? Warum isst er von niemand anderen? Aber von Ayaz isst er doch, oder? Ganz komische Sache. Mit zwei Tellern und zwei Capri Sonnen kommt Kenan aus der Küche zurück und reicht mir jeweils einen Teller und eine Capri Sonne. Zum Glück mit Multivitamin Geschmack. „Danke" Er nickt wieder nur. Ich glaube, ich habe mich noch nie so oft an einem Tag bei einer Person bedankt. Er stellt seinen Teller ab und checkt erst sein Handy durch. Im Nachhinein fängt er an zu essen, aber verliert seine Augen nicht von seinem Handy. Die beiden Toasts schmecken wirklich köstlich, ich könnte nichts aussetzen. Meine Capri Sonne trinke ich auch fast leer. Ich liebe es zum Essen zu trinken. Kenan hat seine Capri Sonne nicht einmal angerührt. Als ich endlich zu Ende gegessen habe, schaue ich mich gelangweilt in der Wohnung um. Der große Fernseher hängt über einem weißen Sideboard. Die Wohnung ist ziemlich schlicht gehalten, aber sieht umso edler aus. Die Lampe ist sehr schön und groß. Die kostet bestimmt so viel wie mein ganzes Zimmer. Das sieht man ihr an. Kenans Aufstehen weckt mich aus meinen Gedanken und sorgt dafür, dass ich auch aufstehe. Ich stelle mich ihm in den Weg und reiße den Teller aus seiner Hand. „Lass mich wenigstens aufräumen!", bitte ich ihn etwas harsch. Er schaut überrascht, das kam natürlich unerwartet. Ohne dass er antworten kann nehme ich die Teller zur Hand und laufe in die Küche. Kenan läuft mir hinterher und sieht mir zu. Er beobachtet jede einzelne Bewegung von mir und wartet bis ich fertig bin. Als ich zu guter letzt meine Hände einseife und wasche, laufe ich an Kenan vorbei und setze mich wieder auf die Couch. Irgendwie ist die Atmosphäre zwischen uns sehr angespannt. „Darf ich kurz mit Ayaz reden?", schießt es aus mir. Wie als wäre ich gefangen und müsste ihn um Erlaubnis fragen. Er wählt Ayaz Nummer und reicht mir sein Handy. Aufgeregt warte ich, bis er endlich den Hörer abnimmt.

Zu zweit alleinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt