Ich laufe hinter Pierce die Treppen herunter und beobachte seine athletischen Bewegungen. Für einen Moment befällt mich eine seltsame Leichtigkeit, am liebsten würde ich einfach die ganze Trennungs- und Drama- und Streit- und Panikattacke-Scheiße ausradieren und genau da ansetzen, wo unsere Beziehung (oder was auch immer) angefangen hat. Unsere Schritte knallen laut auf das Metall der Treppe und ein hohles, trappelndes Echo fliegt über den kleinen Hof hinter der Bibliothek. Ich muss lachen und es ist seltsam befreiend. Pierce ist am Ende der Treppe angelangt und dreht sich überrascht zu mir um. In seinem Blick stehen immer noch Zweifel und Verletztheit und diese seltsame Unsicherheit, für die ich verantwortlich zu sein scheine. Oder vielleicht hab ich sie auch vorher einfach nicht gesehen - oder er konnte sie vorher besser verstecken. Was auch immer es ist, es lässt mich blitzschnell wieder ernster werden. Pierce steht am Treppenabsatz und ausnahmsweise bin ich mal größer als er, da ich immer noch ein paar Stufen über ihm stehe. Eine Welle der Verzweiflung und der Sehnsucht überkommt mich, wenn er da so skeptisch mit seinen haselnussbraunen Augen zu mir hochsieht und die Stirn in Falten legt.
Am liebsten würde ich ihm all unsere Sorgen einfach aus dem Gesicht wischen und in dem Versuch überbrücke ich den Abstand zwischen uns. Immer noch ein kleines bisschen größer als er stehe ich jetzt auf der letzten Stufe direkt vor ihm und ziehe ihn in einen innigen Kuss. Diesmal bin ich es, der sein Gesicht umfasst, als wolle ich ihn nie wieder loslassen und er kann nur überfordert und überrascht die Arme um mich schlingen. "Es tut mir leid", murmele ich in unseren Kuss, "Es tut mir leid. Es tut mir leid." Immer wieder wiederhole ich die Worte und schlinge die Arme um seinen Hals. Pierce grinst leicht an meinen Lippen und festigt seinen Griff um meinen Oberkörper. Mühelose hebt er mich von der Treppenstufe und schwingt mich ein paar Mal im Kreis, ohne sich von unserem Kuss zu lösen. Mir wird schwindelig und ich muss lachen. Er trägt mich zur Wand des Gebäudes herüber und drückt mich sanft dagegen, ehe er mich wieder die paar Zentimeter nach unten senkt, die meine Füße vom Boden trennen. Wir küssen uns und der Moment kommt mir unendlich vor. Sein Nacken ist warm und seine Haare sind so weich wie immer und ich schließe genüsslich die Augen, als er unseren Kuss noch etwas vertieft und mich in eine noch engere Umarmung zieht. Er riecht nach Rauch und Gras und Aftershave und ich atme tief ein.
Irgendwann löst Pierce seine Lippen von meinen und senkt seine Stirn gegen meine. Ich will mich noch nicht von ihm lösen, ich will nicht reden, ich will ihn einfach nur küssen. Ich will, dass er mich festhält, als würde er mich nie wieder loslassen und ich will, dass er provokant in meine Lippe beißt und dann rau lacht und dass alles einfach genauso bleibt. Ich überbrücke den kleinen Abstand zwischen unseren Lippen und küsse ihn und er schmunzelt. Ich küsse ihn noch einmal und noch einmal und noch mal, bis er sich schließlich endgültig von mir löst. Unsere Atemzüge gehen schwer, seine Brust hebt und senkt sich merklich und ich versuche in einem letzten Versuch meine Arme um seinen Nacken zu schlingen und ihn zu mir heranzuziehen. Fast denke ich er spielt mit, da stoppt er wieder einmal kurz vor meinem Mund. Mein heißer Atem prallt gegen seinen und mein Herz springt mir fast aus der Brust, die Spannung in dem Abstand unserer Körper macht mich ganz kirre. Aber Pierces Blick wird ernst und wandert von meinen Lippen zu meinen Augen. Er hat seine Arme noch immer um mich geschlungen und ich lehne seufzend den Kopf gegen die Wand hinter mir. Sein unergründlicher Blick sorgt dafür, dass ich wie mit einem Sprung ins Eiswasser in die Realität zurückkomme.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in den Magen, denn plötzlich weiß ich genau, warum es bei uns nur höchstes Hoch und tiefstes Tief gibt. Ich kann mich ihm nicht wirklich öffnen, deswegen stürze ich mich in den Versuch, mich ihm wenigstens körperlich hinzugeben. Aber dass das Eine ohne das Andere bei mir scheinbar einfach nicht geht, müsste ja selbst ich mittlerweile begriffen haben. Und Pierce weiß das alles nicht. Er sieht nur, wie ich mich erst total auf ihn einlassen will und ihn dann plötzlich mit nem fetten Arschtritt komplett aus meinem Leben befördere. Und das ist scheiße unfair. Diese Selbsterkenntnis macht mir Angst, aber ich bin froh, dass ich das endlich begriffen habe. Ich werde mit Dr. Roth darüber sprechen müssen. Seltsam, wie mir diese Gedanken immer nur im Zusammenhang mit Pierce kommen. Und wie ich ihn so ansehe, den rätselhaften, starken Blick, mit dem er mich bedacht und seine Arme, die mich festhalten, als würde er mich nie wieder loslassen wollen, hab ich plötzlich noch eine Eingebung: Ja, es ist scheiße furchteinflößend, aber vielleicht, vielleicht ist es auch gar nicht so schlecht, mich auf ihn einzulassen.
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Wasting My Young Years
Teen FictionDer 17jährige Sebastian ist glücklich, zumindest meistens. Er versteht sich gut mit seinen Schulkameraden, schreibt gute Noten ohne sich Mühe zu geben. Liest gerne und hat einen mehr oder weniger gut bezahlten Job in der Bibliothek. Hat eine Familie...