23 - Frustration, Küsse und Überraschungen

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Am Freitag kriege ich im Philosophieunterricht zwei Ermahnungen. Dann nimmt mich mein Lehrer beiseite, denn normalerweise bin ich hier immer 100% dabei, und fragt mich wie es mir geht. Als ich plötzlich laut werde und meinen Lehrer anfauche, was die Scheiße soll und ob man mich nicht einfach mal in Ruhe lassen könnte, fliege ich aus dem Unterricht. Verdient, zugegebenermaßen. Ich bin einfach froh, dass Lena nicht in meinem Kurs ist und mich nicht auch noch fragen kann, was zur Hölle mit mir los ist. Nichts ist los? Was soll los sein?! Kann man mir wirklich so offensichtlich im Gesicht ansehen, dass irgendwas mit mir nicht ganz richtig ist? Und müssen mir das alle andauernd unter die Nase reiben? Es ist als würde mir jede zweite Person in meinem Leben ständig mit einem Zettel vorm Gesicht rumwedeln, auf dem fettgedruckt draufsteht, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Es nervt einfach. Und dass mich mein Coach später auch noch im Flur abfängt und mich anschnauzt, dass ich gefälligst nicht einfach das Training schwänzen kann, trägt wirklich nicht zu meiner guten Laune bei. Ich erwidere bloß bissig, dass er mich ja wahrscheinlich sowieso nach Hause geschickt hätte und bevor der Coach seine Ausreden von wegen "Ich wollte dir doch nur helfen" und "Das war ja nur eine Frage" beenden kann, flüchte ich mit den Worten "Ich muss in den Unterricht". 

Nachdem ich diesen schrecklich langen Schultag mit schrecklich langem Unterricht hinter mich gebracht habe, mache ich mich ohne Lena auf den Weg zur S-Bahn-Station. Ich weiß, dass Theo Lena und mich abholen wollte und zur Bibliothek fahren wollte, also ist die Bahn der einzige Weg den Beiden auszuweichen. Als ich schließlich alleine in der Bahn sitze, schreibe ich Theo schnell ich hätte vergessen, dass er uns abholen wollte. Er wird mir das nicht glauben, einfach deswegen, weil das noch nie vorgekommen ist, aber er kann auch nicht wirklich was dagegen tun. Kurz bin ich davor meine Schicht in der Bibliothek auch einfach zu schwänzen, aber da ich meinen Job nicht verlieren möchte, lasse ich das dann doch lieber. Bei der Bibliothek angekommen steht Lena bereits hinter dem Ausleihtresen und ich schnappe mir mit einem kurzen, ziemlich schnippigen "Hallo" den Büchertrolley und mache mich an die Arbeit. Lena ruft mir irgendeine Frage hinterher und ich vermute, dass sie mal wieder fragt was mit mir los ist und ignoriere es einfach. Nach gefühlten Ewigkeiten bin ich fast fertig mit dem Zurücksortieren der Bücher, nur noch die oberste Etage mit den Gedichtbänden und Biographien und allem Möglichen ist noch übrig. Hier hab ich Pierce das erste Mal getroffen, denke ich wehmütig und nehme mir eine Weile Zeit um durch die Gedichtbände durchzugucken. Vielleicht finde ich ja etwas, dass ich nochmal ausleihen möchte oder mit etwas Glück ist ein neuer Band dabei. 

Ich hocke mich vors Regal und streiche mit den Fingern über die Buchrücken. Wo der Rilke Band stand, den Pierce mitgenommen hat, ist jetzt eine Lücke und ich fühle mich genauso leer wie diese kleine Stelle im Regal. "Solltest du nicht arbeiten?", fragt eine spöttische Stimme hinter mir und ich schrecke aus meinen Gedanken auf. Was macht er hier? Schießt es mir durch den Kopf, ehe ich mich hektisch zu Pierce umdrehe. Sein Blick ist unergründlich, so viel schwingt darin mit. Er trifft mich mit einer solchen Intensität, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenkrampft. Und bevor ich denke "scheiße, was mach ich jetzt" und "was soll das, was will er hier?" und "ohje, ich hab ihn so verletzt" und "was wenn er mir nie verzeiht" und "will ich das überhaupt?", denke ich: "Ich hab dich vermisst." Ein Ausdruck voller Verletzlichkeit und Schmerz huscht übet Pierces sonst so gefasste Gesichtszüge und mir wird zu spät klar, dass ich das laut gesagt habe. Bevor die Sehnsucht mich überwältigen kann und ich etwas Dummes mache, rappele ich mich auf und bringe zur Sicherheit noch etwas mehr Abstand zwischen uns, als ohnehin schon zwischen uns liegt. Von der Distanz, die mein Anruf zwischen uns gebracht hat und die ich jetzt in Pierces Blick lesen kann ganz zu Schweigen.

So stehen wir uns gefühlte Ewigkeiten gegenüber. Pierce ist am Ende des Ganges gegen das Regal gelehnt. Eine Pose, die ich früher als lässig empfunden hätte, kann ich jetzt als ungewohnt angespannt enttarnen. Ich selbst stehe verkrampft, mit schwitzenden Händen mitten im Gang, der Büchertrolley drückt unangenehm in meine Hacken. Ich fühle mich unwohl, unangenehm eingeengt in der Situation und ein ähnliches Gefühl breitet sich von meinem Brustkorb ausgehend bis in meine Zehenspitzen langsam aber sicher in meinem ganzen Körper aus. Beklemmung. Ich bin nicht bereit für diese Situation, dafür mich für irgendwas erklären zu müssen, rechtfertigen zu müssen. Für einen Moment fühlt es sich an, als würde ich langsam und qualvoll sterben. Wenn ich darüber nachdenke, wäre das vermutlich sogar besser als die Situation, in der ich mich jetzt befinde.

Wasting My Young YearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt