22 - Gespräche, Entwicklungen und noch mehr Erinnerungen

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Es ist Donnerstag und langsam werde ich etwas nervös, was meinen Termin bei Dr. Roth angeht. Ich hab fast die ganze Wohnung heimlich abgesucht, bis ich irgendwann etwas gefunden habe, von dem ich einfach mal ausgehe, dass es unsere Versichertenkarte ist. Ich hoffe bis morgen vermissen meine Mütter die nicht. Und noch mehr hoffe ich, dass Dr. Roth Recht hat und sie nichts von meinen Terminen erfahren werden. Vermutlich würden sie die Lügen im Endeffekt schlimmer finden, als dass ich tatsächlich zur Therapie gehe, sie hatten das damals schließlich vorgeschlagen. Aber ich fürchte mich vor ihren Fragen, denn wie ich auch sind sie davon ausgegangen, dass ich mit den Geschehnissen auf meiner alten Schule abgeschlossen habe. Und warum ich das nicht habe, dass kann und will ich ihnen nicht beantworten müssen. Das letzte was ich will, ist dass sie sich Sorgen um mich machen, wenn ich das genauso gut auch einfach verhindern kann. Indem ich ihnen nichts davon erzähle. Basketball schwänze ich einfach, ich glaube nicht, dass der Coach wirklich was dagegen hat. Und wenn- sollen sie mich halt rauswerfen. Momentan ist mir alles einfach nur noch egal. Meine Noten bekommen das auch mehr als deutlich zu spüren. Ich werde schon komisch angeguckt - besonders von Lena - weil ich im Unterricht fast einschlafe anstatt aufzupassen und mitzumachen wie sonst auch. Das liegt aber daran, dass schlaflose Nächte mir eine unvermeidbare Müdigkeit bescheren. 

Auf dem Weg zu Dr. Roth scheint die Sonne ein wenig, aber es ist längst nicht mehr so warm, wie noch ein paar Wochen zuvor. Ich melde mich bei dem freundlichen Mann an der Theke an, der übrigens Christian heißt, wie ich herausfinde, dann setze ich mich ins Wartezimmer. Es ist mehr los als am Montag, im Wartezimmer sitzt bereits eine Dame mittleren Alters mit einem kleinen Mädchen, das ich auf etwa 11 Jahre schätze und im Gang ist mir eine junge Frau etwas älter als ich entgegengekommen. Nach etwa fünf Minuten werde ich ins Behandlungszimmer gerufen und nehme wie letztes Mal auch auf dem gemütlichen Sofa mit Blick in den Garten Platz. "Hallo Sebastian", begrüßt mich Dr. Roth mit einem warmen Lächeln, dass ich so gut es geht zu erwidern versuche. "Wie geht es dir heute?", fragt sie mich und darüber muss ich erstmal eine Weile nachdenken. Wie geht es mir? "Es ist viel passiert, seit ich das letzte Mal hier war", umgehe ich ihre Frage wage und sie schenkt mir einen aufmerksamen Blick. Wie letztes Mal auch, nehme ich mir genug Zeit um die Worte zunächst bedächtig in meinem Kopf zu formen.

"Ich habe Theo gesagt, dass ich schwul bin", fange ich dann mit dem einfacheren Teil an. Überrascht sieht Dr. Roth mich an, dann lächelt sie. "Das ist ein großer Schritt", sagt sie anerkennend, "wie geht es dir damit?" Ja, wie geht es mir damit. "Naja, er hat mich mehr oder weniger dazu gezwungen es ihm zu sagen. Ich war- Es ging mir ziemlich mies und er wollte wissen warum. Also hab ich die Bombe einfach platzen lassen, damit er nicht weiter nachfragt. Ich wusste ja, dass er wahrscheinlich gar kein Problem damit hat. Ich weiß selbst nicht, warum ich es ihm nicht schon vorher gesagt hab. Ich glaube- vielleicht hab ich einfach zu viel Angst vor den Fragen, die er dann stellen würde. Die ich nicht beantworten kann", versuche ich zu erklären und mir ist ziemlich bewusst, dass kein normaler Mensch in der Lage ist zu verstehen, was ich damit meine. Ich wische mir seufzend übers Gesicht. Heute fühlt sich meine Zunge an wie Blei und ich muss jedes Wort schwer über die Lippen bringen. "Warum ging es dir denn schlecht?", fragt Dr. Roth im Versuch mich zu verstehen. Ich verstehe mich ja selbst nicht einmal. Und jetzt stellt sie genau die Frage, die ich gefürchtet hatte. Ich will nicht erzählen, dass ich Pierce angerufen habe. Ich will nicht davon erzählen, wie ich ihn brutal abserviert habe. Und davon, wie verletzt er klang. Ich schweige eine Weile und versuche verzweifelt die richtigen Worte zu finden. 

"Ich hab am Montag die Sache mit Pierce beendet - was immer das auch war", sage ich schließlich schwer schluckend. Dr. Roth nickt mit einem mitfühlenden Blick. "Ich schätze aus demselben Grund, aus dem ich Theo nichts gesagt habe. Ich wollte Pierce einfach nicht weiter belasten. Ich- das konnte doch gar nicht funktionieren mit uns. Nicht so", versuche ich weiter zu erklären. Dr. Roth nickt wieder und stellt dann eine Frage, die mich ziemlich trifft und meine Hände zum zittern bringt. "Was kannst du ihnen nicht erzählen, Sebastian?" Sehr gut. Wir fangen also direkt mit dem ganz tiefliegenden Scheiß an. Mein Magen krampft sich zusammen, alleine bei dem Gedanken darüber zu reden, allein bei dem Gedanken, daran zu denken. Es war so erniedrigend, so unfassbar verletzend. Ich fahre mir mit zitternden Fingern durch die Rastalocken und übers Gesicht. "In welcher Beziehung standest du zu Christopher?", fragt sie weiter nach. Verdammt, sie ist so gut. Panik befällt mich - wie kann sie so schnell darauf kommen. Ich habe Angst, dass sie irgendwas weiß und gepaart mit den Erinnerungen, die in mir aufsteigen, sind das Ziehen in meiner Brust und die Krämpfe in meinem Magen beinahe unerträglich. "Wie waren Freunde. Das hab ich schon erzählt", presse ich zwischen den Lippen hervor. Alles ist einfach zu viel und ich merke am Rande meines Bewusstseins, wie mein ganzer Körper anfängt zu zittern. Mein Atem geht stockend und Dr. Roth streicht mir beruhigend über den Arm. "Okay. Erzähl einfach was du für richtig hältst", sagt sie sanft und ich nicke fahrig.

Wasting My Young YearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt