Ich sitze im Geschichtsunterricht und sehe verträumt aus dem Fenster, es ist wirklich noch zu früh, um sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Viel lieber lasse ich den gestrigen Abend mit einem kleinen Lächeln Revue passieren.
Nachdem Pierce und ich den Schrebergartenpark verlassen hatten, mussten wir leider feststellen, dass die Pizzeria an die ich gedacht hatte geschlossen war. Ein kleiner Teil von mir war enttäuscht (und zwar der hungrige Teil, der Bock auf Pizza hatte), aber der größere Teil von mir war seltsam erleichtert, denn Pierce und ich, zusammen in einer kleinen Pizzeria beim romantischen Dinner - noch konnte ich mir das nicht wirklich vorstellen. Zu öffentlich. Ich mochte es, dass diese Sache noch alleine uns gehörte und sich nur zwischen uns beiden, in unserer Kontrolle abspielte. Ich mochte den Gedanken Pierce so ganz für mich alleine zu haben. Statt Pizza gab es also eine heiße Currywurst mit Pommes an einem Imbissstand in der Nähe, was auch nicht schlimm war. Während dem Essen haben wir uns auf den Weg zu Eds Haus gemacht, welches etwa eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt liegt von dem Viertel in dem sich die Schrebergärten befinden. Wie es langsam dunkel wurde sind wir durch die kleinen Straßen geschlendert und hatten Zeit für ein richtiges Gespräch, von dem keine Arbeit mich ablenken konnte.
Pierce hat erzählt, dass er Berlin ein bisschen vermisst, weil er dort so eine lange Zeit geblieben ist. Ich hab mich nicht getraut zu fragen, wen er dort zurückgelassen hat und ob es vielleicht das Ende einer Beziehung war, die ihn vertrieben hat. Ich hab ihn nach Alex und seinen anderen Pflegegeschwistern gefragt und ob es sonst noch irgendeine wichtige Person in seinem Leben gibt, von der ich wissen sollte. Er hat lange geschwiegen und mir dann ein wenig von einer der Pflegemütter erzählt, die er über die Jahre hatte. "Es war auch nicht immer alles scheiße", hat er gewitzelt, aber ich konnte nicht wirklich darüber lachen. Danach sind wir wieder zu leichteren Themen gewechselt. Ich hab ihn gefragt was er für Musik hört und er hat schmunzelnd gebeichtet, dass er eigentlich nicht wirklich Musik hört. "Er liest nicht, er hört keine Musik. Was soll ich nur mit dir anfangen?", habe ich mich über ihn lustig gemacht und ihm danach von der Musik erzählt, die ich so höre. Unter anderem von der lokalen Musikszene, die gar nicht so übel ist, wie man vielleicht denkt. Auf diese Art ging unser Gespräch immer weiter, bis wir schließlich vor Eds Haus angekommen waren. Bevor er reingegangen ist, hat er mich lange angestarrt, mit diesem intensiven Blick, der mir die Haare auf den Armen aufstellt, dann hat er sich zu mir gebeugt um mich zu küssen. Anstatt den Kuss einfach zuzulassen bin ich irritiert zurückgewichen und habe erschrocken geflüstert: "Es könnte uns jemand sehen!"
Ein wenig beleidigt hat Pierce sich also umgedreht um zu gehen, aber dann hab ich es mir doch noch anders überlegt und ihn kurz in den Schatten eines Baumes gezogen, ehe ich ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen gedrückt. Pierce hat mich nur angegrinst und ich bin knallrot geworden - warum auch immer, dann hat er sich mit einem "Man sieht sich" davon gemacht.
Während ich so in Erinnerungen schwelge und vor mich hingrinse, kriege ich gar nicht mit, dass Lena mich ebenfalls grinsend beobachtet. Sie tippt mich unauffällig an um den Unterricht nicht zu stören und fragt dann neugierig: "Was grinst du denn so, Seb?" Und als ich nur geheimnisvoll lächele schiebt sie hinterher: "Bist du etwa verknallt?" "Man weiß es nicht", sage ich nur grinsend, viel zu happy um jetzt noch auf geheimniskrämerisch zu machen. "Ich hatte gestern ein Date", erzähle ich dann und merke wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Lena reißt überrascht ihre Augen auf und fragt mit einem lauten Kieksen: "Und wie war's?" Sie scheint völlig vergessen zu haben, dass wir noch im Unterricht sind und unsere Lehrerin ermahnt sie genervt: "Fräulein Wagner! Augen nach vorne bitte!"
In den Pausen versucht Lena noch mehr aus mir herauszukriegen, aber mit mehr Infos rücke ich nicht heraus. Sie weiß ohnehin schon viel zu viel. Irgendwann geht sie dann zu anderen Gesprächsthemen über und lässt mich in Ruhe. Während wir unser mitgebrachtes Essen frühstücken, pingt mein Handy mehrfach und ich checke meine Nachrichten. Eine unbekannte Nummer hat mir mehrere Bilder geschickt und nach näherem hinsehen erkenne ich Pierces Gesicht. Mir geht auf, dass es wohl Pierces Nummer sein muss, die ich am Samstagabend nach unserem Anruf gar nicht mehr eingespeichert habe. Auf dem einen Bild sieht man sein genervtes, knallrotes Gesicht, er hat offensichtlich einen fetten Sonnenbrand, das andere Bild ist ähnlich, nur das es seinen stark verbrannten Nacken zeigt. Ich muss lachen, als ich seine Nachricht darunter lese. "Alles deine Schuld", steht da nur und ich antworte: "Du hättest nur fragen müssen, wir haben durchaus auch Sonnencreme." Darauf antwortet Pierce nichts mehr und ich muss wieder lachen. Ich ertappe mich dabei, wie ich die Bilder deutlich länger betrachte als nötig und packe schnell mein Handy wieder weg, ehe Lena etwas bemerkt.
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Wasting My Young Years
Teen FictionDer 17jährige Sebastian ist glücklich, zumindest meistens. Er versteht sich gut mit seinen Schulkameraden, schreibt gute Noten ohne sich Mühe zu geben. Liest gerne und hat einen mehr oder weniger gut bezahlten Job in der Bibliothek. Hat eine Familie...