Vergissmeinnicht

Kapitel 16 / Sebastian

Jemand platzte auf einmal in mein Büro rein.

,,Jonas!", vorwurfsvoll sah ich meinen Sohn an, der außer Puste vor meiner Tür stand. ,,Was ist denn?"

Er streifte sich die graue Kapuze von seinen Haare. Sein Blick war unergründlich. Jonas wirkte irgendwie zerstreut und gleichzeitig aufgebracht.

,,Wieso hast du mir das nicht gesagt?"

,,Was denn?"

,,Ellas Mutter war mit dir in der selben Klasse, stimmt's?"

Verdattert öffnete ich meinen Mund.

Wie hatte er das denn herausgefunden?

Meine Klassenfotos und Jahresberichte waren in einem Karton auf dem Dachboden mit all den anderen Sachen, die meine Mutter von mir aufbewahrt hatte. Oder doch im alten Küchenschrank?

Ach, keine Ahnung!

Jedenfalls hatte ich es Jonas nicht erzählt und wenn ich es nicht war, dann musste es Julia gewesen sein, die es wahrscheinlich ihrer Tochter erzählt hatte, damit Ella sich von meinem Sohn fernhielt.

,,Hat dir das Ella erzählt?", kam es kühl von mir und ich schlug die Mappe mit den Matheschulaufgaben meiner achten Klasse, die ich gerade korrigierte, zu.

,,Nein, irgendein alter Mann am See hat es uns erzählt."

,,Was?"

,,Kaja Preissner", redete Jonas durcheinander weiter. ,,Sie ist bei der Abschlussfeier 2000 umgekommen. Du und Ellas Mutter habt im selben Jahr auf der selben Schule euren Abschluss gemacht!"

Kaja... Dass ich diesen Namen aus dem Mund meines Sohnes hören würde, wäre mir vor einer Woche genauso unvorstellbar gewesen wie die runde Erde für die Kirche vor tausend Jahren.

,,Du kanntest diese Kaja Preissner, stimmt's?", donnerte Jonas weiter. ,,Glaubst du, dass sie sich selbst umgebracht hat?"

,,Jonas..."

,,Du kanntest sie!", Jonas warf wütend seine Arme in die Luft. ,,Weißt du was, ist mir auch egal! Sie suchen auf jeden Fall nach 21 Jahren ihre Leiche wieder."

Sie suchen wieder nach Kaja? Dieser Mistkerl von Kerim hatte den Fall tatsächlich wieder aufgerollt! Er hatte es tatsächlich geschafft seinen Chef dazu zu bringen, dass man nach einer vor zwei Jahrzehnten verschwundenen Leiche suchte!

Ich konnte es nicht fassen!

Mein Sohn knallte meine Bürotür hinter sich zu und ich hörte, wie er die Treppen auf sein Zimmer hochpolterte.

Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Sollte ich meinen Sohn beruhigen? Panik schieben? Die Schulaufgaben weiter korrigieren oder Julia Bescheid geben?

Mein Handy vibrierte. Wenn man vom Teufel sprach...

Julia [18:10]
Sie wissen es.

Mehr hatte meine ehemalige Klassenkameradin nicht geschrieben und diese Information wusste ich ja bereits.

Ich atmete tief ein und dann aus, bevor ich mich auf den Weg zu Jonas' Kinderzimmer machte.

,,Kumpel?", ich klopfte sanft an die Tür, als ich keine Antwort bekam, öffnete ich.

Jonas lief unruhig in seinem Zimmer auf und ab. Ich konnte sein Gehirn rattern hören. Meiner Meinung nach sah er zu viele Thriller und er reagierte deswegen komplett über.

,,Wieso hast du mir das verschwiegen? Sie war deine Klassenkameradin!"

,,Jonas", ich schloss die Zimmertür hinter mir. ,,Was hätte ich dir denn sagen sollen? Hey, übrigens eine Klassenkameradin von mir hat sich bei unserer Abschlussfeier über Bord geschmissen? Wolltest du das hören?"

,,Quatsch!", er blieb stehen und sah mir aufgebracht in die Augen. ,,Das mit Ellas Mutter hättest du mir erzählen sollen! Sie war nämlich auch deine Klassenkameradin!"

,,Und?"

,,Und?! Sag mal glaubst du, ich bin blind, Papa? Als du mich bei Ella abgeholt hast, habt ihr gestritten!", Jonas fuhr sich durch die Haare. ,,Oder geküsst. Was weiß ich!"

,,Hey, hey. Nur weil wir in der selben Klasse waren, heißt das nicht, dass wir ein Paar gewesen sind", ich machte eine beruhigende waagrechte Handbewegung.

,,Ach nein?", Jonas machte einen Schritt auf mich zu. ,,Erinnerst du dich an unser Versprechen, Papa? Dass wir keine Geheimnisse voreinander haben, die den anderen beeinflussen könnten? Ich frage mich, was aus diesem Versprechen geworden ist?"

,,Was hat denn unser Versprechen mit der Sache zu tun?"

,,Ella ist eine Freundin! Und du hast mir deine Beziehung zu ihrer Mutter aus einem ganz bestimmten Grund nicht erzählt! Weshalb hm?", Jonas fixierte mich wütend. ,,Wieso willst du mir nicht sagen, was zwischen dir und Ellas Mutter vorgefallen ist?"

,,Wieso willst du das überhaupt wissen, Jonas? Es sind 21 Jahre vergangen! Wir haben beide Kinder!"

Und ein Geheimnis, dass wir hüten müssen...

,,Und ihr seid beide alleinerziehende Eltern!"

,,Hör doch auf mit dem Scheiß!"

,,Wart ihr zusammen?"

,,Nein."

,,Freunde?"

,,Ja", beantwortete ich die Frage wahrheitsgemäß. ,,Julia war meine beste Freundin."

,,Seid ihr im Streit auseinander gegangen?"

,,Ja."

,,Und Kaja?", fragte Jonas. ,,Was war mit ihr?"

Ich zögerte. Sollte ich es meinem Sohn erzählen? Gut, sobald die Polizei mich wegen einer Zeugenaussage ins Revier bestellte, würde er es früher oder später sowieso erfahren.

,,Kaja war meine feste Freundin, als sie Selbstmord begangen hat."