Kapiert 15 / Jonas

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,,Eine Leiche?", wiederholte ich verwirrt.

,,Natürlich. Sie suchen nach Kaja Preissner."

Ella und ich wechselten einen fragenden Blick.

Der ältere Herr vor uns steckte zufrieden die Hände in seine alte zusammengeflickte Jacke: ,,Anscheinend wird es Zeit, dass ich euch die Geschichte erzähle. Da hinten sind doch zwei Bänke. Lasst und dort hingehen."

Ich sah kurz zu Ella, die etwas verunsichert wirkte, aber ich würde sie schon vor dem alten Mann beschützen, falls er ihr etwas antun sollte. Besonders kampffähig sah der Senior nämlich nicht gerade aus.

Wir ließen uns auf die zwei Bänke fallen und ich achtete darauf zwischen Ella und dem Mann zu sitzen.

,,Es war auf der Abschlussfeier 2000 der Realschule", begann der Mann, der in der weiten Ferne zu den Polizisten sah, die mit einer Thermoskanne auf die Taucher warteten.

Papa hat da Abschluss gemacht!, schoss es mir sofort durch den Kopf.

,,Kaja war mit ihrem festen Freund und ihrer besten Freundin da. Die Feier neigte sich dem Ende zu. Jeder schien einen Heidenspaß zu haben, also beschloss Kaja noch ein Stück Kuchen zu holen, aber sie kam nie zu ihren Freunden ans oberste Deck zurück. Die Polizei hat es als Selbstmord abgestempelt und die Schuld den Depressionen und der Scheidung ihrer Eltern zugeschoben. Ihre Leiche hat man nie gefunden. "

,,Das ist schrecklich", hauchte Ella mitleidig.

,,Hat sie sich über Bord geworfen?", fragte ich und sah zu den Polizisten, zu denen sich zwei nicht uniformierte stellten. Wahrscheinlich die Kriminalpolizei.

,,Ja, so erklärt sich die Polizei die Tragödie. Die Musik ist anscheinend so laut gewesen, dass man Kaja nicht springen hörte. Und weil man sie nach intensiver Suche nicht finden konnte und man nicht einfach so von einem Schiff verschwinden kann, erklärte man sie für tot."

Plötzlich stand ich auf: ,,Wie hoch ist das Schiff? 18, 19 Meter insgesamt?"

Ich deutete auf den an Dock gelassenen Trimeran.

,,Ihre Freunde waren am Sonnendeck, also muss sie von einem der unteren Decks gesprungen sein, was für einen Selbstmord eigentlich keinen Sinn ergibt. Sie kann dann nur noch höchstens 12m gefallen sein. Das Schiff fährt nicht besonders schnell, außerdem gibt es hier weder großen Wellengang noch viele Steine in der Mitte des Sees. Eigentlich kann man so einen Sturz aus dieser Höhe überleben, außer Kaja Preissner hatte Steine im Kleid und ist dabei ertrunken", ich drehte mich gespannt um.

Ella schien von meiner Theorie hochgradig verstört zu sein, aber der ältere Herr lächelte nur selig.

,,Tja, Junge. Wir werden wohl nie die Wahrheit über Kajas Tod erfahren, solange sie nicht ihre Leiche finden."

,,Glauben denn Kajas Freunde, dass sie selbstmordgefährdet gewesen ist?"

,,Was heißt glauben?", seufzte der Mann und stand auf. ,,Viele Menschen wissen noch nicht einmal, was Glaube ist."

Der Senior drehte sich zu uns um und verabschiedete sich mit einem einfachen Gruß.

,,Komm, lass uns weiter joggen", schlug Ella vor. ,,Wenn sie was finden, wollen wir es erstens gar nicht sehen und zweitens steht das Morgen sowieso in der Zeitung."

Ich blieb aber stehen und starrte fasziniert auf das Schiff.

Wie verzweifelt kann ein Mädchen gewesen sein, dass es sich auf der Abschlussfeier umbringen musste? Sie hatte doch so viel für diesen Tag getan!

Ich verstand es nicht. Das machte irgendwie keinen Sinn!

,,Wieso hast du mir das nie erzählt, Papa?", murmelte ich verloren, als mein Blick wieder zu den Polizisten glitt, die immer noch auf den See starrten.

,,Was denn, Jonas?", erkundigte sich Ella.

,,Mein Vater hat auch 2000 seinen Abschluss gemacht. Auf der selben Realschule und er muss bei dieser Abschlussfeier dabei gewesen sein. Schließlich ist da immer der ganze Jahrgang auf dem Schiff."

,,Ich denke, dein Vater hat dir einiges nicht erzählt", meinte Ella und gesellte sich zu mir. Sie pustete sich eine blonde Strähne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht. ,,Meine Mutter hat hier nämlich auch 2000 ihren Abschluss gemacht."

Überrascht machte ich einen Schritt zurück.

,,Du meinst... unsere Eltern waren in dem selben Jahrgang?"

,,Ja", antwortete Ella mit einem verschlossenen Gesicht, ,,und es würde mich auch nicht überraschen, wenn sie auch noch in der selben Klasse waren."

,,Das wäre wirklich krass", murmelte ich und blickte zu Ella, deren Gesicht keine einzige Emotion zeigte.

Es war schwer zu sagen, ob sie wütend, enttäuscht oder es beinahe erwartet hatte, ein Geheimnis ihrer Mutter herauszufinden.

Ich dagegen war von der Tatsache komplett überrumpelt. Papa und ich hatten eine sehr gute Beziehung und wir erzählten uns eigentlich immer alles.

Dass er mir verschwiegen hatte, dass seine Klassenkameradin sich auf der Abschlussfeier umgebracht hatte, verletzte mich irgendwie.

,,Und weißt du, was noch krasser wäre?", murmelte Ella plötzlich bitter. ,,Wenn unsere Eltern sogar mit dieser Kaja Preissner befreundet gewesen waren."

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