Kapitel 19 / Sebastian

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Julia stand um 23 Uhr auf dem Steg aus Metall und stützte sich am Geländer ab. Sie hatte mich um ein Treffen gebeten, um mir von ihrer Unterhaltung mit Kerim zu berichten.

Eine Erinnerung spielte sich vor meinem geistigen Auge ab und verblendete mir kurz die Sicht, während ich zu Julia ging.

Genau dort, wo die Stadt diesen hässlichen Steg, der von modernen Lampen beleuchtet wurde, hin gezimmert hatte, sind Kaja, Julia, Kerim und ich ab und zu Nachts baden gegangen, nachdem wir uns von Zuhause fortgeschlichen hatten.

,,Ich bekomme hier immer wieder ein nostalgisches Gefühl", meinte sie, bevor sie sich mit einem traurigen Lächeln zu mir umdrehte.

Ich antwortete nicht, sondern stützte mich schweigend neben ihr am Geländer ab. Mir war nicht besonders nach reden zumute.

,,Ker denkt, er wäre für Kajas Tod verantwortlich", erzählte sie leise und starrte auf den See hinaus, über dem der Halbmond stand. ,,Er macht sich Vorwürfe wegen dem Alkohol, den er reingeschmuggelt hat."

Ein freundloses Lachen löste sich von mir.

Wenn dieser Idiot nur wüsste...

,,Er hat sich an dem Fall jetzt festgebissen. Sie haben auch noch eine Profilerin dabei. Da wird es schwierig den Fall ungelöst abzuschließen."

,,Sie werden sowieso nicht weit kommen ohne die Leiche", brummte ich.

,,Aber wenn sie die Leiche finden, wissen sie, dass-"

,,Wenn... wenn... Julia, die Wahrscheinlichkeit ist so gering, wie... wie", mir fiel auf die schnelle kein passender Vergleich ein.

,,Wie die Tatsache, dass ich wieder hier herziehen würde... aber wie du siehst, stehe ich hier."

,,Das ist was anderes", behauptete ich mit kratziger Stimme.

,,Mir gefällt die Sache genauso wenig wie dir. Aber Ker... er glaubt, dass du Kaja umgebracht hast. Immer noch."

Mich ließ das ungewöhnlich kalt. Vor 21 Jahren konnte ich mit dieser Theorie nicht einmal ruhig schlafen. Ich dachte immer, die Polizei würde jeden Moment die Tür einbrechen, in das Haus stürzen und mich vor meiner Mutter abführen.

Die Polizei kam aber nie.

Nach all den Jahren zuckte ich nur mit den Schultern. Kerim Remzi hatte ja nichts gegen mich in der Hand, außer, dass Kaja und ich gegen Ende des Schuljahres eine sehr schwierige Beziehung geführt hatten.

,,Er kann mich ja schlecht als Mörder abstempeln, wenn ich kein Mordmotiv habe."

,,Sicher, dass ihr immer verhütet habt?", gab Julia auf einmal sarkastisch von sich.

,,Wie kommst du denn jetzt darauf?", verwundert drehte ich mich zu ihr um.

,,Nicht, dass die dann ein Embryo in der Leiche finden."

,,Willkommen im Dramafilm, bei dem der Drehbuchautor kein anderes Mordmotiv gefunden hat, außer dass das minderjährige Mädchen schwanger geworden ist", ich machte eine Pause und legte meinen Kopf schief. ,,Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass jemand der so pingelig wie Kaja war, mich auch nur annähernd in ihre Nähe gelassen hätte ohne Kondom. Und auch nur die Annahme, dass wir öfters als zwei Mal Geschlechtsverkehr hatten, ist schon ziemlich absurd."

,,Kaja hat dich echt nicht an sie rangelassen, was?", meinte Julia und steckte sich eine blonde Strähne hinters Ohr.

,,Sag Kerim, dass das mein Mordmotiv ist. Mein sechszehnjähriges frustriertes Ich, dass nicht sein Liebesleben leben durfte."

,,Ich bemitleide dich aus tiefstem Herzen", scherzte Julia.

Dann trat Stille ein. Der Wind ließ leise die Blätter an den Bäumen schaukeln und irgendwo hörte man die Grillen zirpen.

,,Wie geht es Ella?", versuchte ich die Konversation weiter zu führen.

,,Gut, denke ich, wenn man mal davon absieht, dass sie sich jetzt in den Kopf gesetzt hat, in meiner Vergangenheit rumzuwühlen. Wie geht es deinem Sohn?"

,,Felix geht es gut", grinsend bemerkte ich, wie es in Julias Kopf ratterte, ,,und Jonas stellt wahrscheinlich gerade den Dachboden auf dem Kopf, um an die alten Jahresberichte zu kommen."

,,Du hast zwei Söhne?", verwundert blickte mich Julia an.

,,Überraschung", flüsterte ich traurig.

,,Wo ist die Mutter der beiden?"

,,In Fürth, schätze ich", mein Mund wurde bei der Erinnerung an Janine trocken. ,,Oder vielleicht auch nicht. Was weiß ich schon."

,,Willst du... willst du darüber reden?"

Ich sah Julia einen Moment lang in ihre grünen Augen, bis sich mein Blick wieder auf dem See verlor.

,,Nein. Nicht heute."

Wir schwiegen uns eine Weile an. Keiner wusste so recht was er sagen sollte und jeder hing für sich selbst den eigenen Erinnerungen nach.

,,Ich habe morgen Unterricht", seufzend löste ich mich vom Geländer. ,,War schön wieder mit dir geredet zu haben."

,,Ja, war auch schön mit dir", Julia steckte ihre Hände in ihre Jackentasche.

,,Gute Nacht", ich drehte mich um, um mich auf den Weg zu meinem Auto zu machen, als ich Julia meinen Namen rufen hörte. ,,Ja?"

Der Wind wehte durch ihr blondes Haar und ein Schleier tiefer Trauer und Reue legte sich über ihre Augen.

,,Sebastian... Ich habe auch Angst."

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