Vergissmeinnicht

Kapitel 10 / Jonas

Es war Freitag. In Doppelstunde Chemie hatte ich nach der Ex, die wir geschrieben haben, nicht mehr aufgepasst.

Außerdem war meine Klasse nach den ersten zwei Stunden Sport in der früh meistens sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen.

Meinem besten Freund Leon war es in Chemie so langweilig geworden, dass er sein Handy hervorgeholt hatte und anfing Angry Birds zu spielen.

,,Ich verschwende mein Leben gerade sowieso... also, wieso nicht mit Vögeln, die ich gegen Bauklötze werfe?"

Gegen den Einwand hatte ich kein Gegenargument. Ich habe stattdessen angefangen meinen Stift hin und her zu rollen.

Leon hatte sich für den Rest der Stunde nicht einmal die Mühe gemacht, den Hefteintrag abzuschreiben. Ich würde es ihm dann mal wieder per WhatsApp schicken müssen.

,,Naja, ich denke Englisch wird ganz chillig", meinte Leon und quetschte sich in der Pause an quengelnden Fünftklässlern durch.

Er genoss es in vollen Zügen in der höchsten Jahrgangsstufe zu sein. Das hieß Respekt von den kleinen Schülern und ein Erholungsraum inklusive Billiardtisch nur für unseren Jahrgang.

Mal abgesehen von der Tatsache, dass Leon eine komplette Niete im Billiard spielen war.

,,Pass doch auf!", quietschte eine sehr mutige Fünftklässlerin, die Leon gerade angerempelt hatte.

Er drehte sich um: ,,Sorry, hast du was gesagt? Ich kann dich hier oben nicht hören!"

Das Mädchen machte den Mund auf und schloss ihn gleich wieder, da sie merkte, dass sie verarscht wurde. Mit ihren drei Freundinnen lief sie dann hoch erhobenen Hauptes in den Pausenhof.

,,Queens don't compete with hoes", Leon machte eine unnötige Fingerschnips-Bewegung und schob seine Unterlippe nach vorne.

Als Antwort bekam er eine rausgestreckte Zunge von der Fünftklässlerin, die ihn unmöglich noch hätte hören können. Leon fasste sich daraufhin theatralisch an die Brust, dann lachte er.

,,Boah, für solche Zwecke ist es echt praktisch zwei kleine nervige Schwestern zu haben, die glauben sie wären irgendwas besonderes."

,,Jonas!"

Wir drehten uns um. Im Schulgang kam der Lehrer Mario Hopf, der das Tutorenprogramm leitete, bei dem ich aufgrund der Abschlussklasse aufgehört habe teilzunehmen, auf uns zu.

,,Jonas, hast du eine Minute?"

,,Ähm, ja ich denke schon, Herr Hopf. Was ist denn?"

,,Komm bitte mit", er deutete mit dem Kopf auf eines der Klassenzimmer.

,,Soll ich mit?", flüsterte Leon in mein Ohr.

,,Ne, geh schon mal zu Englisch und sag Bescheid, falls ich zu spät komme."

Die Pause ging zwar noch zehn Minuten lang, aber Herr Hopf war kein Lehrer, der schnell auf den Punkt kam.

,,Also", räusperte sich Herr Hopf, nachdem er die Tür des Klassenzimmers schloss und der Pausenlärm nur noch dumpf zu hören war. ,,Du machst ja dieses Jahr nicht mehr im Tutorenprogramm mit, stimmt's?"

,,Ja, aber ich weiß, dass Felix-"

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung: ,,Jaja, ich bin mir darüber im klaren, Jonas. Aber es geht jetzt speziell um dich. Du bist auch Schulsprecher zusammen mit Seda und das heißt, dass ihr beide die Verbindung zwischen Lehrer und Schüler seid."

Hält er mir gerade eine Rede darüber, wie ich als Schulsprecher sein soll?

,,Ok, ich fasse mich kurz: Dein Vater hat ein neues Mädchen in der neunten Klasse. Ihr Name ist Ella Weber. Sie hat Schwierigkeiten in Physik und in Mathe scheint es bei dem Mädchen auch nicht gerade rund zu laufen. Dein Vater dachte, dass du ihr als guter Schüler in den Fächern und als Schulsprecher vielleicht Nachhilfe im Sinne des Tutorenprogrammes geben könntest. Er meinte, dass das auch eine gute Wiederholung für deinen Abschluss sein könnte."

,,Mein Vater will was?", ungläubig starrte ich Herrn Hopf an.

Papa mischte sich nie in meine schulischen Aktivitäten ein. Ihm war das ganze eigentlich ziemlich egal.

Wieso wollte er jetzt auf einmal, dass ich mich um dieses Mädchen kümmerte?

,,Es war nur ein Vorschlag von ihm. Du musst das selbstverständlich nicht machen, aber..."

,,Aber?"

,,Sie ist aus Dubai hergezogen." (Für ein arbisches Land hat sie einen ganz schön deutschen Namen...) ,,Sie ist neu hier, Jonas. Sie kennt niemanden und es wäre sicherlich ein gutes Entgegenkommen von dir, wenn du dich ihr annimmst."

,,Ich werde aber bezahlt, oder?", fragte ich schmunzelnd.

Herr Hopf gluckste: ,,Also willst du sie? Wenn es dir mit den Abschlussprüfungen zu stressig wird, kannst du immer noch aufhören."

Ich zuckte mit den Schultern: ,,Kann ja nicht schaden, oder?"

Das Gesicht des Lehrers hellte sich auf: ,,Ausgezeichnet! Hier das Formular und ich kann sie dir gleich vorstellen. Moment..."

Hopf ging zur Tür.

Interessiert überflog ich Ella Webers Daten, die sie angegeben hatte. Das Mädchen hatte eine schöne Schrift und wohnte ungefähr zehn Minuten Fußweg von mir entfernt.

,,Ella, das ist dein Tutor Jonas", stolz stellte der Lehrer uns vor. ,,Er wird dich in Mathe und Physik unterrichten."

Mir fiel die Kinnlage hinunter. Vor der Tür stand das blonde Mädchen vom Supermarkt, das mich auf ein verirrtes Herbstblatt im Haar hingewiesen und mir einen wirklich leckeren Pudding empfohlen hatte.

,,Man sieht sich dann doch schneller als geplant", meinte Ella lachend.

,,Tja, das Schokopuddingschicksal wollte es wohl so", grinste ich.