SECHSUNDZWANZIG - ER

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Ich hätte gar nicht hier sein dürfen...

„Zünde sie doch an."

Ich bringe das Feuerzeug an die Spitze meiner Zigarette und sauge daran, als ob ich einen Milchshake mit dem Strohhalm trinken würde.

Eigentlich habe ich es meinem besten Freund versprochen mit dem Rauchen aufzuhören, aber ich sehne mich zu sehr danach und muss so mein Versprechen brechen.

Simon und ich haben jede freie Minute hier an dieser Stelle verbracht. „Der Abgrund der Verdammnis" wie mein Freund unsere grosse Terrasse nannte, die auch schön mit viel Unkraut bepflanzt war. Seit seinem Tod bin ich öfters hier. Die Terrasse ist ein super Ort um der Realität zu entfliehen. Hier habe ich keine Verpflichtungen, hier muss ich einfach nur sein.

Eigentlich herrscht in meinem Sicherheitstrakt ein striktes Rauchverbot. Als ob sich der „glatzköpfigen Bad Boy", jemals daranhalten würde.

Regeln werden aus einem bestimmten Grund festgelegt, um sie zu brechen. Sofern sie auch sinnlos erscheinen, wobei das natürlich im Auge des Betrachters liegt.

Als ich einatme, spüre ich, wie der Rauch durch meinen Körper in die Lunge wandert, dort verweilt und dann recht schnell wieder nach oben steigt, wo er an die frische Luft wieder abgegeben wird.

Der schönste Augenblick jedoch ist genau dann die Kippe in den Mund zu führen und zu entzünden. Wobei der Rauch in meine Lunge schiesst. Ich sehe die Glut, die auf der Spitze der Kippe glüht. Obwohl ich erst seit einigen Monaten rauche, ist es immer ein besonderes Erlebnis eine Zigarette zu rauchen und so meinen kranken Körper nur noch mehr zu zerstören.

Ja, ich bin krank. Eher geisteskrank wie ich mich selbst bezeichne. Ich habe Blutkrebs oder wie man das im Fachjargon sagt: «Leukämie».

Deine Mitleidtour kannst du dir bitte ersparen. Ich brauche keine mitleidende Blicke oder solche sinnlosen Karten mit der Überschrift wie Gute Genesung, alles wird Gut oder mit sonstigem Scheiss, den ich wirklich nicht brauche. Nur eine Stammzelltransplantation würde mir weitere Jahre von meinem beschissenen Leben schenken. Doch das interessiert mich nicht mehr wirklich. Seit Jahren warte ich auf diesen einen Telefonanruf mit der erlösenden Nachricht.

„Herzlichen Glückwunsch - Wir haben das passende Opfer für dich gefunden."

Die Suche nach den perfekten Spendern ähnelt etwa der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.

Anstatt darauf zu warten, geniesse ich die letzten Stunden lieber als eine tickende Zeitbombe....

Ich nehme einen letzten Zug und drücke die Zigarette aus. Das Nikotin entfaltet seine Wirkung. Das tut echt gut.

Um mir die Zeit zu vertreiben, scrolle ich ein bisschen durch Instagram. Bei meinen alten Fussballkameraden gibt es nichts Neues. Natürlich nicht. Die schlafen wahrscheinlich noch alle. Und wo sie gestern Abend waren, weiss ich natürlich auch: an irgendeiner Fete von Marco. Ich überfliege rasch die Beiträge.

Oh Mann, ich wünsche, ich wäre auch dort gewesen stattdessen habe ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt!

Herrliche Vorstellung: Ich wäre der Star der Party gewesen, schliesslich bin ich der Kapitän. Sorry, ich war der Kapitän.

Der Gedanke macht mich traurig. Ich schüttle meinen Kopf, um die Melancholie abzuwerfen.

«Siri, bitte google nach Mona Rochat.»

Innerhalb von wenigen Sekunden erscheinen unzählige Ergebnisse. Ich durchforste jede einzelne der angezeigten Seiten und stosse hin und wieder auf ein Foto. Auf diesem trägt Mona ein ausgeblichenes Jeanshemd und eine schwarze Lederjacke.

Zudem lächelt sie in die Kamera, doch ist es nicht das gleiche Lächeln: Es ist vertraulicher und zugleich ein wenig gezwungen. Ihr echtes Lachen ist von hochgezogenen Wangen und Fältchen um die Augen begleitet.

Ich mag es irgendwie, wenn sie lächelt.

Als ich auf das Foto klicke, um es zu vergrössern, ärgere ich mich über mein idiotisches Verhalten.

Was mache ich hier überhaupt und was erwarte ich mir davon?

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt