•VIERUNDDREISSIG - ER•

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Egal, was andere über die Trauer sagen und darüber, dass die Zeit alle Wunden heilt. Die Wahrheit - die nackte Tatsache ist, dass der Schmerz über Simons Tod mich lange begleiten wird, bis mein Herz aufhört zu schlagen.

Habe ich überhaupt eine andere Wahl?

Niemand interessiert sich für mich. Meine Sorgen werden vergessen oder sogar ignoriert.

Jeden Tag erhoffe ich mir, dass er nicht so wird wie der vorherige. Mir ist klar, dass ich nicht mehr so weiterleben kann. Irgendwann würde ich noch an einem Herzinfarkt oder noch besser aus Sehnsucht sterben.

Ja, es zerreisst mich innerlich. Ich weiss immer nicht, warum er mir so viel bedeutet hat.

Simon war mein Bruder und wird es immer bleiben. Aber dennoch habe ich solche Angst, die mich jeden Tag umso mehr verschlägt, wegen dem alles stehen und liegen bleibt und ich ihn komplett vergessen werde.

Habe ich eine andere Perspektive haben können? Oder ist das hier der Anfang vom Ende? Ich weiss es nicht. Es ist wie in einer Sackgasse und ich kann den Ausweg nicht finden.

Das Leben ist so und wird auch so für immer bleiben. Nichts ist wie früher.

Manchmal reicht es nicht, alles für jemanden zu geben, der sein Leben schon längst abgeschrieben hat.

Jeden beschissenen Tag muss ich mich unter Druck setzen und mir eine neue Notlüge ausdenken, damit ich mit meinem schönsten Fake-Lächeln unter die Menschen treten kann.

Wie tröstlich mein Lachen doch wirkt.

Verdammt! Simon.

Warum kann ich ihn nicht wie ein Luftballon loslassen, welcher sich für immer weiter von der Erde entfernen wird.

Für den ganzen Scheiss gebe ich mir die Schuld. Das ganze Leben habe ich Zeit zum Überlegen gehabt, aber jetzt will ich etwas Unüberlegtes machen. Es wird nicht sehr intelligent sein, aber es fällt mir nichts anderes mehr ein.

Ganz alleine fahre ich diese Strasse entlang. Ehrlich gesagt, weiss ich nicht wohin sie führt. Jeder Blick durch die leeren Gassen entpuppt sich als Hoffnungskiller. Mir scheint es, als ob man hier keine Hoffnungen hat und man auf den Strassen der zerplatzen Träume geht. Ich rolle einfach nur noch gerade aus. Das Einzige was mich verfolgt ist mein kalter Schatten, der mich auf Schritt und Tritt jagt. Kein einziges Geräusch ausser meinem kaputten Herzen höre ich. Nur noch weiter. Gelegentlich stoppe ich und hoffe, dass ich jemand begegnen kann und dieser Person mein Herz ausschütten kann. Doch es kommt niemand. Ich folge der Richtung der Strassenschilder und will stoppen. Widerstand leisten. Wenn es doch nicht so schwer wäre.

Es ist wie ein Film, der sich immer wieder und wieder abspielt. Dein Lächeln, deine Augen. Verschwinde bitte, ich will dich nicht mehr sehen. Er hat mir etwas gegeben, das ich nie zuvor habe oder gefühlt habe. Freundschaft. Zuversicht. Hoffnung.

Wie von magischen Kräften geleitet, bleibe ich stehen und sehe vor mir ein Tattoo-Shop. Es ist mystisch und so anziehend zugleich. Ich habe wirklich den Zwang in den Laden zu betreten und schliesslich tue ich dies auch.

«Hey!», begrüsst mich ein muskulöser Mann mit extrem vielen Piercings und Tattoos im Gesicht. Seine Glatze ist mit einem Teufelskopf bestückt, der mir nicht einmal Angst einflösst. Der Typ scheint nett zu sein, irgendwie.

«Hey, ich hätte gerne ein Tattoo.», sage ich monoton, als ob es für mich alltäglich ist ein Tattoo zu stechen.

Der Herr nickt und führt mich in einen abgelegenen dunkeln Raum.

Es stinkt nach Rauch, der mich widerstandlos macht. Ich ziehe meine Jacke samt T-Shirt aus.

«Was wünscht der edle Ritter?», fragt mich der Tätowierer grinsend.

Ich zucke mit den Schultern. «Etwas am Arm und Brust wäre nicht schlecht.», erwidere ich merkwürdig gelöst.

Er sieht mich sehr verwirrt an, verzieht sein Gesicht und steht auf. Mir ist es gleich, ich weiss schliesslich auch nicht, was ich hier zu suchen habe.

Der Künstler setzt sich an den gegenüberliegenden Schreibtisch von mir und kritzelt irgendwas. Nach einer Weile kommt er wieder auf mich zu und klatscht wortlos mir eine Folie auf meinen Oberarm.

«Es wird dem Ritter gefallen.», spottet der Typ.

«Und wie nennt sich dieser Tattoo-Stil, Typ mit Totenkopf?»

«Maori.», antwortet er mir kalt.

Ich bin mir nicht sicher, ob er Maori heisst oder der Stil so betitelt wird.

Ich frage lieber nicht nach, sonst würde der Totenkopf-Mann mir noch die Knochen brechen. Nicht dass ich Angst habe vor ihm, aber ich habe keine Lust auf einen Kampf. Meine ermüdeten Glieder werden es nicht überstehen.

Ich lasse es sein und der Typ kann mit seiner Zeichnung auf meinem Oberarm beginnen.

Wenig später spüre ich das einzelne Ziehen und feine Stechen der Nadeln auf meiner Haut. Wie Feuer ist es, vielleicht auch schlimmer. Jetzt will ich diesen Schmerz ertragen und nicht mehr zurückschauen.

Wie lange es noch dauern wird?

Ich kann Simon, meinen besten Freund nicht vergessen, denn er ist in meinem Herz eingraviert. Für immer.

Von heute an muss ich der Tatsache ins Auge sehen, dass allein schon der Gedanke, alles hier hinter mir zu lassen, schmerzt.

Nun muss ich nach vorne schauen, es bleibt mir gar nichts übrig. Einfach Null.

Ganz egal, was man über mich denkt. Es wird mein Leben, meine Spielregeln und meine Entscheidungen sein.

Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren, denn es gibt rein gar nichts mehr zu bereuen.

Unsere gemeinsamen unbezahlbaren Momente wird uns keiner nehmen können. Ein Teil in mir wird immer noch hilflos nach Simon schreien, das weiss ich jetzt schon.

Eine Träne gleitet mir der Wange entlang.

Bruder, du fehlst mir immer, wenn etwas in meinem Leben passiert. Weil ich es mit dir teilen will. Du fehlst mir, wenn ich wegen meiner Krankheit aufgewühlt bin, weil du mich verstehen kannst und ich bei dir Rat finden kann, da du das Gleiche durchleben musstest. Du fehlst mir, wenn ich durch die Therapie den ganzen Scheiss aus dem Körper kotzen muss. Ich weiss, du würdest mich mit einem dämlichen Spruch zum Lachen bringen und das Gekotze erträglicher machen. Simon, du fehlst mir ständig, aber am meisten fehlst du mir, wenn ich nachts wach liege und an all die wundervollen Zeiten denke, die wir miteinander im Krankenhaus verbracht haben. Einige davon waren die besten Momente meines Lebens. Ich vermisse dich!

BEFORE YOU SAY GOODBYE | 🇩🇪Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt