Das Testament

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Cassandra drückte das Bremspedal bis zum Boden des Wagens durch. Ein Ruck ging durch den alten Audi. Sie biss die Zähne zusammen und reckte den Hals. Beinahe wäre sie gegen einen der Blumentöpfe gefahren, die vor dem Eingang der Anwaltskanzlei standen. Auch, wenn sie ihren Führerschein bereits einige Monate besaß und ihre Prüfung beim ersten Versuch bestanden hatte, Anhalten und Einparken war ihr noch immer nicht geheuer.

Dass sie heute auch nicht ganz bei der Sache war, machte dies nicht unbedingt besser. Sie hatte an ihren Großvater gedacht, den sie vor einigen Tagen beerdigt hatten.

Sie seufze und warf einen Blick auf das, in braunes Papier eingeschlagene , Ölgemälde, welches der neben ihr auf dem Beifahrersitz lag. Das war sein letztes Werk und in einigen Stunden würde sie dieses Ian Harper, dem Anwalt und Notar ihres Großvaters, überlassen, der sich dann um den Vertrieb in den Kunstgalerien kümmern würde, oder so ähnlich. Cassandra hatte den Prozess, den das Bild eines berühmten Malers durchlaufen musste, nie ganz verstanden. Ihr Großvater hatte unzählige Bilder gemalt.  Sie alle zeigten fantastische Welten und Wesen, die sich Cassandra noch nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hätte.  Sie fuhr mit einer Hand über das Gemälde auf dem Beifahrersitz. Es war nicht sonderlich groß, vielleicht A3-Format. Sie wusste genau, was es zeigte. Es zeigte einen verzauberten Wald mit einem glitzernden See, aus dem eine Meerjungfrau mit langen grünen Haaren hervorlugte. Es war ein Meisterwerk, genau wie all seine anderen Bilder. Sie wusste nicht genau, wie viele Bilder er tatsächlich gemalt hatte und wieviele er verkauft hatte.  Aber eines wusste sie ganz genau: Das, was er mit seiner Malerei verdient hatte, war nicht gerade wenig.

 Cassandras Kehle war wie zugeschnürt. Sie wollte es nicht wahrhaben. Mit zitternden Fingern zog sie den Autoschlüssel aus dem Schloss und steckte ihn in ihre Jackentasche. Dann schloss sie für einen kurzen Moment die Augen. Nachdem sie noch einmal durchgeatmet hatte, stieg sie aus dem Wagen und löste den Anschnallgurt von dem Gemälde.
Der Himmel über ihr war wolkenverhangen. Nicht ein einziger Sonnenstrahl drang durch die dichte Wolkendecke.

Cassandra warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war zu früh. Trotzdem entdeckte sie auf dem Parkplatz vor der Kanzlei einen weiteren Wagen. Es handelte sich um einen giftgrünen Käfer, den jemand liebevoll zu pflegen schien. Nicht der kleinste Kratzer war zu entdecken. Cassandra schenkte ihm keine weitere Beachtung. Sie umklammerte das Bild fester und betrat die Kanzlei durch die großen gläsernen Türen. Drinnen studierte sie eine Plakette, die neben der Tür an der Wand angebracht worden war und erfuhr, dass sich Ian Harpers Büro im obersten Geschoss befand, was an sich ja kein Problem darstellte, wenn man einmal davon absah, dass dieses Gebäude keinen Aufzug besaß.

Schnaufend kam sie im obersten Stock an und stützte sich an der Wand ab. Die Vorzimmerdame lächelte sie mitleidig an. „Ich weiß, die Hausverwaltung setzt sich schon seit Jahren dafür ein, dass wir einen Fahrstuhl bekommen, aber bis jetzt hat sich noch nichts getan."
Cassandra kam schweratmend auf den Tresen zu und lehnte das Bild dagegen. „Ein Fahrstuhl wäre in der Tat nicht schlecht.", antwortete sie und erwiderte das Lächeln.
Die Vorzimmerdame faltete ihre Hände auf dem Tisch vor sich. „Was kann ich für dich tun?"
Cassandra schluckte, um den erneut aufkommenden Klos in ihrem Hals zu vertreiben. „Ich bin hier wegen der Testamentseröffnung von Benjamin Steiner.", erwiderte sie leise.
Die Vorzimmerdame zog eine Augenbraue hoch. „Sie sind um einiges zu früh Ms.", meinte sie.
Cassandra legte den Kopf schief. „Ja, ich weiß. Es ist eine komische Situation."
Die Vorzimmerdame nickte. „Das verstehe ich. Wenn einem das erste Mal so ein Schicksalsschlag trifft, weiß man nicht genau wie man sich verhalten soll."
Cassandra nickte langsam, auch, wenn dies nicht ihr erster Verlust war. Doch, als ihre Eltern verstorben waren, war sie noch zu klein gewesen, um sich auch nur Gedanken darum zu machen.
„Ich bräuchte Ihren Namen."
Cassandra blinzelte ein paar Mal, um sich zu sammeln.
„Natürlich. Cassandra Steiner."
Die Vorzimmerdame nickte und tippte etwas in ihren Computer ein. „Na schön Ms. Steiner. Ich würde Sie bitten noch kurz im Wartezimmer Platz zu nehmen. Es kann noch einige Zeit dauern." Cassandra nickte, griff nach dem Bild und betrat das spärlich eingerichtete Wartezimmer.

Medusa-Die Frau im TrenchcoatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt