Der Schlüssel

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Cassandra lehnte an der Wand und wartete darauf, dass Ian Celeste diese Schachtel überreichte, die sie von Cassandras Großvater geerbt hatte. Nicht, dass Cassandra neugierig gewesen wäre. Sie wartete nur darauf Ian das Gemälde ihres Großvaters zu geben, damit er alles Rechtliche klären konnte.
Der dickliche Mann stand mit der Frau etwas abseits und zog gerade eine kleine Holzschachtel aus seiner Anzugstasche, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Die Frau nahm die Schachtel entgegen und öffnete sie.
Vorsichtig reckte Cassandra sich und versuchte einen Blick auf den Inhalt zu erhaschen. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, war sie ja doch neugierig, was das zu bedeuten hatte.
Der Blick auf den Inhalt blieb ihr jedoch verwehrt, da die Frau die Schachtel sofort wieder schloss und sie in ihrer Manteltasche verschwinden ließ.
Dann drehte sich Celeste um. Cassandra umklammerte das Bild fester und begann damit das braune Papier von der Leinwand zu lösen. Darunter kam das bunte Gemälde mit der Meerjungfrau zum Vorschein.
„Es ist wunderschön."
„Ja, das ist es wohl.", sagte Cassandra schnell und nutzte die Gelegenheit Celeste noch einmal genauer zu betrachten. Schließlich würde sie diese Gelegenheit wahrscheinlich nicht noch einmal bekommen.
Die Frau lächelte. „Ich liebe die Pinselführung. Die Farben wirken, als würden sie tanzen. Es verleiht jedem seiner Bilder eine persönliche Note.", meinte sie."
Cassandra nickte abwesend. „Das stimmt wohl."
Celeste richtete den Kragen ihres Mantels und schob sich an Cassandra vorbei. „Mach es gut Cassandra."
„Sie auch.", murmelte Cassandra und ging nachdenklich auf Ian Harper zu, der seine Brille putzte.
„Mr. Harper? Mein Großvater hat noch dieses Gemälde gemalt. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich darum kümmern und in die Galerie bringen könnten. Ich verstehe leider nichts davon."
Ian Harper nickte. „Natürlich. Es ist mir wie immer eine Ehre. Ich habe so gut wie jedes Bild vor seiner Veröffentlichung in der Hand gehabt. Fast sechzig Jahre muss es her sein, als ich sein erstes Bild gesehen habe. Es war schrecklich und nicht für die Außenwelt bestimmt, aber es war der Anfang seines Lebenswerkes. Nun darf ich auch sein letztes Gemälde halten."
Cassandra ging bei seinen Worten langsam rückwärts. Ihre Gedanken schwirrten. „Sechzig Jahre...", murmelte sie. Ian Harper sah sie besorgt an. „Ja, das habe ich gesagt. Geht es dir gut?"
Cassandra nickte langsam. „Ja, ja, mir ist nur eingefallen, dass ich noch dringend etwas erledigen muss.", stammelte sie, drehte sich um und rannte aus dem Raum. Ian Harper sah ihr nur stirnrunzelnd nach. „Die Jugend von heute...", murmelte er kopfschüttelnd.

Cassandra stolperte die Treppenstufen hinunter, immer zwei auf einmal nehmend. Jetzt wusste sie, was ihr an dieser Frau so merkwürdig vorgekommen war! Diese Frau war nie im Leben älter als fünfunddreißig. Sie konnte ihren Großvater gar nicht begegnet sein, als dieser sein erstes Bild gemalt hatte.
Sie stieß die Tür auf und sah wie die Celeste in den grünen Käfer stieg. Cassandra nahm die Beine in die Hand und rannte zu ihrem Auto. Sie riss die Tür auf und startete den Motor. Der Käfer bog bereits auf die Hauptstraße ein. Cassandra holte tief Luft und folgte der mysteriösen Frau.

Die Fahrt dauerte nicht lange. Der Weg führte sie erst über die stark befahrende Hauptstraße und dann bog die Frau auf einen etwas abgelegenen Seitenweg ein, der nicht annährend einer vernünftigen Straße glich, eher einem verbesserten Feldweg.
Dann wurde die Straße breiter und führte sie in ein Industriegebiet. Links und rechts der Straße befanden sich Fabriken und Lagerräume. Nur wenig später bog Celeste auf einen großen Hof ein und stieg aus. Cassandra wartete, bis sie das Lagerhaus betreten hatte, und fuhr dann ebenfalls auf den Hof. Dort stellte sie den Motor ab und schlich näher an das Lagerhaus heran. Das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Knirschen ihrer Schuhe auf dem Schotter. Das Gelände war verlassen. Außer dem Wagen von der Frau und ihrem eigenen konnte man kein Zeichen dafür erkennen, dass sich noch jemand anderes auf dem Platz befand.
Sie erreichte das Eingangstor und schob sich durch den schmalen Spalt. Den dunklen Schatten, der sie dabei beobachtete, bemerkte sie nicht.
Vorsichtig bewegte sie sich durch die schwach beleuchteten Flure und sah sich um. Von den Fluren führten stählerne Türen in einzelne Lagerräume. Was könnte die Frau hier wollen? Sie bog um eine Ecke und presste sich instinktiv an die Wand. Schweratmend beobachtete sie, wie Celeste einen der Lagerräume aufschloss und darin verschwand. Cassandra biss sich auf die Unterlippe. Da stimmte etwas nicht. Mit der ganzen Frau stimmte etwas nicht. Sie war nicht die, die sie vorgab zu sein.
Darauf bedacht keinen Laut zu machen, schlich sie sich weiter an den Raum heran und warf einen schnellen Blick in die Dunkelheit.
Plötzlich wurde sie am Kragen gepackt und in den Raum gezogen. Mit Schwung wurde sie an die Wand gepresst und jemand platzierte seinen Arm auf ihrer Brust, sodass es ihr schwerfiel zu atmen.
Sie hörte das Krachen der Lagerraumtür und dann wurde das Licht angeschaltet. Jetzt konnte sie erkennen wer sie da an die Wand presste.
„Was machst du hier?", zischte Celeste und drückte Cassandra fester an die Wand. Diese keuchte auf.
„Ihnen folgen."
„Ja, das sehe ich auch, aber warum? Was willst du?"
Cassandra funkelte sie wütend an. „Ich will die Wahrheit. Sie haben gelogen!"
Die Frau lockerte ihren Griff etwas, sodass Cassandra wieder normal atmen konnte.
„Ich lüge oft und viel Cassandra, da musst du wohl noch etwas spezifischer werden.", sagte sie und ließ Cassandra nun vollständig los. Diese griff sich an die Brust und holte noch einmal tief Luft. Erst jetzt hatte sie Zeit sich in dem Lagerraum umzuschauen. Dieser war vollgestopft mit alten, verstaubten Büchern und komischen Dingen, die Cassandra keiner bestimmten Kategorie von Dingen zuordnen konnte. Sie drehte sich einmal im Kreis und entdeckte weitere Gegenstände, die nicht nur alt, sondern auch wertvoll und irgendwie mystisch wirkten.
„Was ist das hier?"
Celeste ging zu einem großen Metallschrank hinüber, der im Gegensatz zu den Regalen modern und sicher wirkte. Dieser war zu Cassandras Erstaunen bemalt mit allerhand Symbolen. „Und was sind das für Zeichen? Die sehen beinahe aus wie Runen. Was wird hier gespielt? Wer sind Sie?"
„Das sind sehr viele Fragen. Welche von denen soll ich zuerst beantworten?", fragte Celeste und fuhr mit der Handfläche über die Symbole auf der Schrankwand, die leicht zu glühen begannen. Dann sprang die Tür auf. Cassandra wich einen Schritt zurück. „Was war das?"
„Magie."
„Magie?"
„Spreche ich irgendwie undeutlich?"
Cassandra begann leicht zu zittern. „Was soll das hier? Was ist das alles? Wer sind Sie verdammt? Und was zum Teufel mache ich hier?"
„Das Letzte würde ich auch sehr gern wissen.", meinte Celeste und griff nach einer hölzernen Schachtel, die ebenfalls mit Symbolen verziert war.
Cassandra sah sich in dem Raum um. An der Wand neben ihr lehnten einige Eisenstangen. Langsam streckte sie eine Hand aus und griff danach. Sie machte entschlossen einen Schritt auf die Frau zu und ließ die Stange auf sie zu sausen. Celeste wirbelte zu ihr herum und griff nach der Stange. Sie verdrehte Cassandras Arm und entwand ihr die Stange. Cassandra stand wie angewurzelt da. Ihre innere Stimme schrie danach wegzulaufen und sich nicht umzuschauen, doch ihr Körper wehrte sich dagegen. Es war als hätten alle ihre Muskeln plötzlich den Dienst quittiert.
„Du bist deinem Großvater wirklich sehr ähnlich."
„Sagen Sie mir die Wahrheit!", schrie Cassandra mit bebender Stimme, „Sie sind nie im Leben meinem Großvater begegnet, als er gerade sein erstes Bild gemalt hat! Sie sehen keinen Tag älter aus als fünfunddreißig. Mei n Großvater hat sein erstes Bild vor sechzig Jahren gemalt!"
„Ich fühle mich sehr geschmeichelt, aber ich bin viel älter.", meinte Celeste und ließ die Schachtel in ihrer Manteltasche verschwinden.
Cassandras Brust hob und senkte sich rasend. „Was?"

Die Frau trat einen Schritt auf sie zu und schaute Cassandra direkt an, zumindest vermutete diese das, denn durch die Sonnenbrille konnte man nicht das geringste erkennen. „Es gibt Dinge, die du nicht wissen sollest. Dinge, die dich in Gefahr bringen, also bitte ich dich: Mach dich auf den Nachhauseweg und denk nicht mehr hier ran.", sagte sie ruhig.
Cassandra kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Nein.", sagte sie entschieden und verschränkte die Arme.
Plötzlich erklang ein kehliges Knurren aus dem Flur. Die Frau hob ruckartig den Kopf. Ihre Hand glitt an ihren Gürtel und umfasste den Griff einer Pistole.
„Ist dir etwas gefolgt?", zischte sie und entsicherte die Waffe.
„Etwas?"
„Ich hab keine Zeit dir das jetzt auch noch zu erklären. IST DIR ETWAS GEFOLGT?"
Cassandra schüttelte langsam den Kopf. „Nein, ich...ich glaube nicht."
Von Draußen erklang erneut das tiefe Knurren und dann hörte man das Kratzen von Krallen an der Tür.
„Komm hinter mich, sofort!", befahl Celeste. Cassandra zögerte keine Sekunde. So sehr sie dieser Frau auch misstraute, gegen das Ding da draußen hatte sie keine Chance.
Celeste bewegte sich einige Schritte vor.
„Was haben Sie vor?!"
„Die Tür öffnen."
„Die Tür öffnen?!", rief Cassandra entsetzt, „Das Ding da draußen klingt nicht gerade freundlich."
Celeste würdigte sie keines Blickes und schob den Riegel von der Tür. Sofort wurde diese aufgestoßen.
Cassandra blieb die Luft weg. Im Türrahmen stand eine Kreatur, gebaut wie ein Mensch, doch mit Krallen statt Fingern und langen Reißzähnen.
Die Kreatur fletschte die Zähne.
„Medusa, schön dich mal wieder zu sehen."
Cassandra starrte die Frau fassungslos an. „Ihr Name war auch gelogen?"
Die Frau warf ihr einen schnellen Blick über die Schulter zu, während sie die Pistole auf das Wesen richtete.
„Dachtest du wirklich, dass mein Name der Wahrheit entspricht, wenn ich anscheinend bei so gut wie allem gelogen habe?"
Dann wandte sie sich wieder an die Kreatur, die sich genüsslich die Zähne leckte.
„Was willst du Kai? Wer schickt dich?"
Das Wesen namens Kai begann zu grinsen. „Kannst du dir das nicht denken? Ich will den Stein."
„Du hast gegen mich keine Chance, das weißt du."
Kais Lächeln wurde breiter. „Das stimmt. Gegen dich habe ich keine Chance, aber gegen deine kleine Freundin hier habe ich eine."
Cassandra griff wieder nach einer der Eisenstangen und umfasste sie so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. „Versuch es doch."
„Da lasse ich mich doch nicht zweimal bitten.", knurrte Kai und fletschte die Zähne.
Cassandra nahm all ihren Mut zusammen und stieß die Eisenstange in Richtung der ihr entgegenspringenden Kreatur. Kai machte einen Satz zur Seite und streckte seine Krallen aus. Cassandra spürte, wie sie sich tief in ihre Haut bohrten. Sie schrie auf.
Dann löste sich ein Schuss und Kai ließ von ihr ab. Seine Augen funkelten blutrünstig, als er sich auf Medusa stürzte. Sie duckte sich unter seinem Angriff weg und verpasste ihn einen Kinnharken, der Kai quer durch den Raum beförderte. Cassandra bekam diesen Kampf nur halb mit. Sie war zu sehr damit beschäftigt die Blutung zu stoppen. In ihren Ohren begann es zu rauschen und sie spürte wie sie langsam das Bewusstsein verlor.

Medusa-Die Frau im TrenchcoatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt