Die Neera

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Fynn schaute nachdenklich auf den Monitor. Ms. Morgan hatte sich von dem Gespräch verabschiedet, um einen, wie sie sagte, hoffentlich geistreichen Spaziergang durch London zu unternehmen.
„Alles, was sie gesagt hat klang plausibel.", meinte Jen, „Und deswegen riskiere ich meine Stelle als Zentrumsleitung. Ich kann es nicht glauben."
Medusa schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen die Tischplatte. „Da stimmt etwas nicht. Ganz sicher! Da ist etwas faul. Das habe ich im Gefühl."
„Dein Gefühl war auch schon früher ein paar Mal falsch. Darauf würde ich mich nicht mehr verlassen."
Cassandra spielte mit dem kleinen Schlüssel an ihrer Kette. „Ich habe mich verplappert.", murmelte sie.
Um sie herum wurde es still.
Jen seufzte. „Das hätte uns allen passieren können. Ist nicht so schlimm.
„Was mich aber interessiert ist, woher du das weißt.", meinte Medusa, „Warum genau Japan?"
Cassandra sah auf. „Ich weiß es aus den Tagebüchern meines Großvaters."
Jen sah überrascht in die Runde. „Tagebücher von Benjamin? Wo kommen die plötzlich her?"
Cassandra ließ ihre Kette los. „ Ich habe sie gefunden, als ich die Sachen verstecken wollte. Dann habe ich Fynn angerufen, damit er mir hilft sie durchzuschauen.", erklärte sie, „Sie reichen zurück bis in das Jahr 1974. Dort schreibt mein Großvater darüber, dass er für eine Weile bei einem Feenvolk in Japan leben wolle. Dann fehlen einige Seiten. Sie waren herausgerissen. Fynn wollte sie wiederherstellen, aber er hatte nicht genug Kraft dafür. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und war völlig fertig. Er hat etwas von einem Widerstand geredet oder so."
Fynn, der während der Unterhaltung kurz aus dem Missionsraum verschwunden war und nun mit einem Tablet zurückkam, schaute sie verwirrt an. „Um was geht es?"
Cassandra seufzte. „Um den Widerstand, den du gespürt hast, als du versucht hast die Seiten widerherzustellen."
Fynn ließ sich an dem Tisch nieder und legte das Tablet auf dem Tisch ab. „Ja, das war nicht gerade schön."
Jen musterte ihn besorgt. „Und dir geht es wieder gut?"
Fynn tippte eifrig auf seinem Tablet herum. „Ja, alles ist in bester Ordnung.", murmelte er.
„1974 ist das Jahr bevor der Stein den Neeras gestohlen wurde.", überlegte Medusa laut, „Und dann fehlen die Seiten, sagtest du?"
Cassandra nickte. „Ja, wie gesagt vermuten wir, dass mein Großvater sie herausgerissen hat. Vielleicht stand auf den Seiten etwas über den Stein. Wenigstens wissen wir jetzt wie er heißt. Vielleicht finden wir noch etwas über ihn heraus, jetzt wo wir seinen Namen kennen."
Fynn schüttelte den Kopf. „Nope, im Internet steht absolut gar nichts. Nichts über den Stein oder die Neera."
Cassandra sah zu Medusa und Jen. „Sie haben nicht zufällig eine Idee, oder?"
Jen knetete ihre Hände. „Ich habe noch nie von diesem Volk gehört."
„Kannst du auch eigentlich nicht.", meinte Medusa, „Neeras leben seit Jahrhunderten im Untergrund. In den Akten der Zentren existierten sie eigentlich nicht, da sie lieber unerkannt bleiben wollen. Nur wenige haben sie zu Gesicht bekommen."
Jen schaute sie ungläubig an. „Und woher weißt du das bitte?"
Medusa verdrehte die Augen. „Du vergisst manchmal, dass ich schon ewig auf dieser Welt wandle. Ich habe aufgehört die Jahre zu zählen."
Jen verschränkte die Arme. „Ja, das vergesse ich manchmal und weißt du auch warum? Weil du dich teilweise wirklich kindisch verhältst."
Medusa legte den Kopf schief. „Ich nehme das jetzt einfach als Kompliment. Man ist ja schließlich immer nur so alt, wie man sich im Inneren fühlt."
Jen verdrehte die Augen. „Das meinte ich. Egal. Woher kennst du die Neera?"
Medusa holte tief Luft. „Du weißt, dass ich in all den Jahren sehr viel herumgekommen bin. Es muss so im 13. Jahrhundert gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Ich bin durch das Karakorum Gebirge gestreift. Das war auch kurz bevor ich angefangen habe zu Jagen. Ich traf damals auf ein Volk. Vogelwesen. Sie lebten sehr spirituell und haben sehr oft gebetet, nicht nur zu den Göttern, sondern auch zu ihren Ahnen. Ob sie dabei einen Stein verwendet haben, weiß ich nicht. Ich konnte da nicht viel mit anfangen. Ich hab nichts mehr für Götter übrig."
„Wegen der Sache mit Poseidon?", fragte Cassandra neugierig, „Also gibt es auch Götter."
Medusa sog scharf die Luft ein. „Keine Götter. Aufgeblasene Schnösel, weiter nichts."
„Ich würde gerne mehr davon hören, aber ich glaube nicht, dass uns das sehr weiterbringt.", bemerkte Cassandra frustriert.
Jen wiegte den Kopf hin und her. „Naja, Ms. Morgan meinte, dass den Neera dieser Stein, den wir suchen, gestohlen wurde. Wenn diese laut Medusa eigentlich nicht in den Akten der Zentren auftauchen, muss der Stein ihnen sehr wichtig sein, wenn sie sich doch an sie wenden."
„In was sind wir da nur reingeraten?", murmelte Fynn, der immer noch auf seinem Tablet herumtippte.
Cassandra warf einen Blick über seine Schulter. „Was machst du da überhaupt?"
Fynn lehnte sich zurück und lächelte. „Ich bringe unseren Fall voran und schwelge nicht in vergangenen Zeiten."
Cassandra stemmte eine Hand in die Hüfte und schaute auf das Wirrwarr aus Zahlen. „Und wie bringen uns Einsen und Nullen weiter?"
Fynn tippte erneut auf dem Bildschirm herum. Auf diesem erschien ein Ladebalken. „Ich verfolge unseren anonymen Hinweis zurück.", antwortete er. Ein leises Pling ertönte. Fynn sprang auf und führte einen kleinen Freudentanz auf. „Ich hab es geschafft! Ich bin drin."
Jen stellte sich neben ihn und warf einen Blick auf sein Tablet. Ihre Augen wurden groß. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Das ist das Postfach des Rates! Wie bist du da überhaupt reingekommen?"
Fynn zuckte mit den Schultern. „Ich hab die Passwörter geknackt. War nicht so schwer. Es waren die gleichen Zahlen, nur, dass immer die letzte Zahl vom vorherigen Passwort die erste Zahl des neuen Passworts war. Das Sicherheitssystem des Rates muss echt mal erneuert werden. Das war viel zu einfach."
Jen fuhr sich über die Augen. „Du bist wahnsinnig!"
Medusa legte überlegend einen Finger an die Lippen. „Nein, er ist ein Genie. Er wird die E- Mail zurückverfolgen."
Fynn breitete die Arme aus. „Danke! Endlich erkennt mal jemand meinen Erfolg!"
Jen begann vor dem Tisch auf und abzulaufen. „Das kann ich nicht zulassen. Das ist nicht richtig.", murmelte sie.
Medusa vergrub ihre Hände in den Taschen ihres Trenchcoats. „Aber wenn er schonmal drin ist, kann er es doch versuchen. Jen, wir müssen weiterkommen. Einen anderen Anhaltspunkt haben wir nicht."
Jen schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Meinetwegen. Herr Gott, dann mach es halt. Jetzt ist es sowieso zu spät. Aber hinterlass keine zurück verfolgbaren Spuren."
Fynn lachte auf. „Ich bin kein Anfänger.", meinte er und wandte sich wieder seinem Tablet zu. „Was man von den Ratsleuten nicht behaupten kann. Deren Arbeit ist einfach nur schlampig.", fügte er noch hinzu.
Medusa rieb sich erfreut die Hände. „Uh, das wird so spaßig!"
Jen hob beschwichtigend die Hände. „Noch ist niemand tot und dementsprechend darfst du auch niemandem umbringen. Wir gehen lediglich einem Hinweis nach."
Medusa zwinkerte ihr zu. „Was nicht ist kann ja noch werden.", antwortete sie und wandte sich dann Cassandra zu. „Und dich werden wir jetzt ausrüsten."
Cassandra schaute sie verwirrt an. „Wofür?"
„Mit dem schlabbrigen Pullover und den zerrissenen Jeans kannst du dort, wo auch immer dieser Ort dann auch ist, nicht auftauchen."
Cassandra sah an sich herunter. „Ernsthaft? Erst bemängeln Sie mein Make-Up und jetzt auch noch meinen Kleidungsstil?"
Medusa schüttelte den Kopf. „Ich bemängle ihn nicht. Ich sage nur, dass dieser Aufzug sehr unpraktisch ist. Du könntest irgendwo hängebleiben oder so."
Cassandra runzelte die Stirn. „ Sie laufen in einem Trenchcoat herum und sagen mir, dass ich irgendwo hängenbleiben könnte?"
Medusa lächelte. „Ich bin nicht mehr in der Ausbildung. Außerdem kann man da runter sehr gut Waffen verstecken. Und nun komm, wir suchen dir jetzt eine schöne Waffe aus."
Cassandra erhob sich von ihrem Stuhl und folgte Medusa.

Jen ließ sich auf einen Stuhl gegenüber von Fynn sinken. „Irgendwann drehe ich hier noch durch. Vielleicht kündige ich einfach."
„Das wäre nicht so gut.", bemerkte Fynn, „Die neue Zentrumleitung würde mich das hier ganz bestimmt nicht machen lassen."
„Und das aus gutem Grund."
Jens Gesichtszüge entspannten sich etwas und sie musterte Fynn eingehend. „Und dir geht es wirklich gut?"
Fynn schaute von dem Display auf. „Ja, warum sollte es das nicht?"
Jen fuhr mit dem Zeigefinger über die Tischplatte. „Du siehst irgendwie blass aus."
Fynn tippte etwas auf dem Display ein und legte es dann vor sich auf dem Tisch ab. „Mir geht es gut Jen, wirklich.", beteuerte er, „Ich war gestern nur etwas erschöpft, das ist alles."
Jen nickte langsam. Fynn bemerkte, dass sie ihm diese Aussage nicht wirklich abkaufte. Er seufzte. „Wenn etwas mit mir sein sollte, werde ich es euch erzählen.", meinte er und lächelte.
Jen erwiderte das Lächeln. „Das will ich auch hoffen."

****

Die Waffenkammer des Zentrums war groß. Cassandra blieb die Spucke weg, als sie die Halle betrat. Sie hatte gedacht, dass sich in dem Trainingsraum schon viele Waffen befanden, aber das hier übertraf ihre größten Vorstellungen. An den Wänden waren Halterungen angebracht worden, an denen verschiedene Waffen aufgereiht waren, die offensichtlich für den Nahkampf gedacht waren. Cassandra entdeckte Dolche, Kurzschwerter, Macheten, Peitschen, Schlagringe und noch viele andere Waffen, von deren Namen sie nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte. An einer anderen Wand stand eine große Kiste. Sie war geöffnet. Cassandra trat etwas auf sie zu und warf einen Blick hinein. Wenn ihr vorher bereits die Worte gefehlt hatten, hatte es ihr jetzt vollständig die Sprache verschlagen.
Vorsichtig holte sie eine lange, breite Pistole heraus und drehte sie in den Händen.
Medusa lachte auf. „Du kannst sie ruhig richtig anfassen. Sie wird nicht losgehen. Das Ding ist nicht geladen."
Cassandra legte sie zurück in die Truhe. „Sowas kann ich nicht benutzen. Ich könnte jemanden verletzen."
„Also, wenn du mich fragst ist das die Aufgabe einer solchen Waffe."
Cassandra schlenderte weiter durch den Raum. „Die Waffen sind alle richtig cool, aber sie sind einfach nichts für mich, verstehen Sie? Die sind mir, wie soll ich es sagen, zu groß und zu schwer. Die kann man nur schwer mit sich herumtragen."
Medusa schlug ihren Mantel etwas zur Seite, unter dem ihr Revolver zum Vorschein kam. „Ich schwöre ja auf Revolver. Die kann man gut unter langen Mänteln und Jacken verstecken."
Cassandra zuckte mit den Schultern. „Ich habe aber so etwas nicht. Ich sehe aus wie die brave Schülerin aus der letzten Reihe. Es fehlt nur noch die Brille. Ich brauche etwas, das zu mir passt."
Medusa seufzte. „Du bist ja echt ein richtig schwerer Fall, aber ich mag das. Die meisten greifen sich irgendeine Kanone."
„Ja, aber wie gesagt: Kanonen sind nicht mein Ding."
„Das habe ich schon bemerkt, als du einen meiner Revolver in den Händen gehalten hast. Schau dich doch noch ein bisschen um."
Cassandra folgte Medusas Ratschlag und nahm die verschiedenen Waffen noch etwas näher unter die Lupe. Dann blieb ihr Blick an einigen kleinen Messern hängen. „Die sehen doch gar nicht mal so schlecht aus.", murmelte sie und nahm sie aus ihrer Verankerung.
„Ja, die sind nicht schlecht. Die kann man gut in hohe Stiefel stecken."
Cassandra warf einen Blick auf Medusas schwarze Lederstiefel. „Haben Sie da auch welche drin?"
„Was glaubst du denn?"
„Zutrauen würde ich es Ihnen.", entgegnete Cassandra und ging zu einer weiteren Halterung herüber. Sie runzelte die Stirn und griff nach einer Armbrust, kaum länger als ihr Unterarm. „Das sieht cool aus.", meinte sie und griff nach einem Pfeil, der neben der Waffe hing.
Medusa verschränkte die Arme. „Ich dachte du wolltest nichts zum Schießen."
Cassandra kniff ein Auge zu und tat so als würde sie mit der Armbrust zielen. „Mag ja sein, aber das Ding ist toll!"
„Kannst du denn damit umgehen?"
Cassandra spannte den Pfeil ein. „Wenn Sie wüssten was man alles aus Fantasy Büchern lernt.", meinte sie, zielte und drückte den Abzug. Der Pfeil zischte durch die Luft und bohrte sich nur wenige Zentimeter neben Medusa in die Wand. „Und vor allem wieviel man bei der Recherche zu diesen Büchern lernt. Bei uns liegt irgendwo noch so ein ähnliches Ding rum. Mein Großvater brauchte eine Partnerin, wenn er Kampfszenen nachstellte. Als ich kleiner war durfte ich solche Waffen nicht einmal berühren, aber als ich älter wurde durfte ich auch mal schießen." Medusa warf einen anerkennenden Blick darauf. „Nicht schlecht. Ich glaube diese Waffe passt sehr gut zu dir."
Cassandra deutete eine leichte Verbeugung an. „Vielen Dank."
Medusa ging zu einem massiven Metallschrank hinüber und öffnete ihn. Er war vollgestopft mit Klamotten. „Irgendwas sollten wir in deiner Größe schon finden. Mit deinen Klamotten kannst du auf keine Mission. Das geht einfach nicht. Du siehst nicht aus wie eine Ermittlerin des Federal Bureau of Investigation."
„Wieso sollte ich auch so aussehen wie jemand von der Kriminalpolizei?", fragte Cassandra und ließ ihren Blick über die Kleidungsstücke schweifen."
„Weil die E. Mail bestimmt nicht von der Kanalisation aus gesendet wurde. Und wenn wir den Ort haben, müssen wir uns irgendwie ausweisen können." Sie griff in den Schrank und zog einen Ausweis heraus, auf dem das Zeichen des FBI abgebildet war. Ihr Lächeln wurde breiter. „Dieses Schätzchen hat schon so manche Tür geöffnet."

Fynn stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Nicht schlecht.", meinte er und musterte Cassandra von oben bis unten. „Der schwarze Lippenstift ist aber ein bisschen too much."
Cassandra fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ich war auch strikt dagegen, aber Medusa hat darauf bestanden."
Medusa zog eine Schmolllippe. „Der hat so gut zu der Lederjacke gepasst.", murrte sie.
Cassandra seufzte. „Das heißt aber noch lange nicht, dass ich ihn tragen muss.", entgegnete sie und stützte sich auf dem Tisch ab, „Außerdem macht mich das um einiges älter."
Fynn rief eine Karte auf dem Tablet auf. „Ich habe herausgefunden woher die E- Mail gesendet wurde. Es ist ein Internetcafé in der Innenstadt.", erklärte er.
Medusa rückte ihre Sonnenbrille zurecht. „Wollen wir?"


Medusa-Die Frau im TrenchcoatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt