Wenn die Vergangenheit ruft

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Cassandra lag schweratmend auf dem Boden der Halle und starrte an die Decke. Sie war völlig durchgeschwitzt. Sie hätte sich ein T-Shirt mitnehmen sollen. Ihr war schrecklich heiß.
Jemand beugte sich über sie. Es war Medusa.
„Schon müde?"
Cassandra hatte keine Kraft sich aufzurichten, also nickte sie nur langsam. Medusa hatte wirklich keine Gelegenheit ausgelassen die neuen Jäger durch die Halle zu scheuchen, die Seile hochklettern zu lassen, was Cassandra nicht gelungen war, oder sie über Kästen springen zu lassen. Dann hatten sie zu zweit Schlagtechniken geübt und nebenbei hatte Medusa Vorträge über die verschiedensten Wesen gehalten, von denen Cassandra bestimmt nur die Hälfte behalten hatte. Das einzig wirklich amüsante an dem Training war jedoch gewesen, dass alle anderen genauso fertig waren wie Cassandra, sogar David, der die Halle nach dem Training beinahe fluchtartig verlassen hatte.
Medusa streckte die Hand aus. Cassandra griff danach und ließ sich von ihr hochziehen. Sofort fasste sie sich an den Kopf. Um sie herum schien sich alles zu drehen. Medusa hielt sie an den Schultern fest, bis sie nicht mehr schwankte.
„Es freut mich, dass ich dich zum Schwitzen gebracht habe. Normalerweise wäre jetzt erstmal eine Pause gewesen und dann würden wir noch fünfundvierzig Minuten laufen, oder eher gesagt ihr."
Cassandra sah sie aus müden Augen an. „Das meinen Sie doch jetzt nicht ernst?"
„Doch, aber heute hast du Glück. Ich muss los und ihr habt frei."
Cassandra atmete auf und drückte ihren Rücken durch. „Das ist auch gut so. Mir tut alles weh."
Hinter sich hörte sie ein leises Kichern. Langsam drehte sie sich um und entdeckte Fynn. „Du brauchst gar nicht zu lachen. Ich habe gelitten. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie das ist. Du standst die ganze Zeit nur dort rum."
Fynn lächelte. „Das stimmt, aber ich weiß trotzdem was du durchmachst. Ich hab das schon alles hinter mir."
Medusa zog eine Augenbraue hoch. „Du sahst beim ersten Training genauso geschafft aus."
„Hab ich je etwas anderes behauptet?", fragte Fynn und verschränkte die Arme, „Was ist das eigentlich für eine Mission? Kann ich mit?"
„Es geht um den Stein, du weißt schon."
„Ach ja, deine Erbschaft. Also, kann ich mit?"
„Nein"
„Schade."
Cassandra schaute Fynn schweratmend an. „Du wusstest von der Erbschaft und dann fragst du mich noch aus?"
Fynn zuckte mit den Schultern. „Ja, nettes Gespräch und so. Außerdem habe ich Medusa ihre Identität verschafft. Celeste Braxton. Cooler Name, oder?"
Medusa klatschte in die Hände. „Ich geh dann mal. Ich hoffe ich finde den Stein, sonst macht mir Jen die Hölle heiß."
Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Trainingsraum. Cassandra stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab. „Und was macht ihr so nach dem Training?"
„Mal dies und mal das. Entweder auf Missionen gehen oder das, was alle anderen normalen Menschen machen."
„Und das wäre?"
„Kaffee trinken. Ich kenne da einen guten Laden ganz in der Nähe."
Cassandra wischte sich etwas Schweiß aus dem Gesicht. „Kaffee klingt doch gar nicht so schlecht. Kann ich dich dann weiter über alles ausfragen?"
„Klar doch."

****

Eine Rate huschte um Kais Füße und schlüpfte dann durch ein Loch in der Wand. Kai verzog angewidert das Gesicht und setzte seinen Weg fort, der ihn durch die Kanalisationen Londons führte. In der Hand hielt er einen Beutel, in dem er die Schachtel mit den merkwürdigen Symbolen verstaut hatte. Die besondere Beschaffenheit des Beutels würde jegliche Aufspürzauber abhalten, das hatte zumindest seine Auftraggeberin gesagt. Kai hatte nicht weiter nachgefragt. Er wurde gut bezahlt und er hatte besorgt, was sie gesucht hatte. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Das war seine Aufgabe. Er führte (dreckige) Aufträge aus und wurde dafür bezahlt.
Er rümpfte die Nase und bog um eine Ecke. Das Wasser kleiner Pfützen sickerte durch Kais Schuhe und durchnässte sie. Er hasste diesen Ort.
Nach einigen Minuten erreichte er eine kleine Nische, in der sich eine dunkle Gestalt in den Schatten drückte.
„Hast du was ich will?", fragte diese, ohne Kai zu begrüßen.
Dieser nickte und reichte ihr das Säckchen.
„Meine Bezahlung?"
Die Gestalt hob abwehrend die Hand. „Ich will zuerst sehen, ob du mich auch nicht über den Tisch ziehst."
„Das würde ich nie tun."
„Wer weiß das schon.", entgegnete die Frau und öffnete den Sack. Langsam holte sie die Kiste heraus und betrachtete sie. „Es scheint die richtige zu sein, nur, um ganz sicher zu gehen, muss ich wissen, was sich darin befindet. Den Schlüssel bitte."
Kai blinzelte ein paar Mal. „Einen Schlüssel? Einen Schlüssel habe ich nicht gesehen."
Die Frau ließ die Schachtel wieder zurück in den Sack gleiten und trat einen Schritt aus dem Schatten hervor. Jetzt konnte man ihre kinnlangen roten Haare und ihre schlanke Statur erkennen.
„Was soll das heißen? Medusa müsste den Schlüssel bei sich gehabt haben. Sie muss ihn gehabt haben!"
Kai wich bei den lauten Ton der Frau etwas zurück. „Ich schwöre, da war kein Schlüssel. Medusa hatte keinen dabei. Aber da war noch jemand anderes. Ein Mädchen. Vielleicht hatte sie diesen Schlüssel.", antwortete er leise.
Die Frau trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und bohrte ihm einen ihrer spitzen Fingernägel in die Brust. „Finde dieses Mädchen und den Schlüssel! Ich bin nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Ich habe nicht Jahrhunderte damit verbracht diesen Stein zu suchen, Bücher und Legenden zu wälzen, nur, um nun an so einem verdammten Schlüssel zu scheitern! Haben wir uns verstanden? Und wenn sich der Stein in meinen Händen befindet."
Kai nickte schnell. „Ich werde den Schlüssel finden. Aber das wird extra kosten."
Die Frau winkte ab. „Das macht nichts. Kein Preis ist so hoch, dass er mich daran hindern würde meine Schwester zurück zu bekommen."

****

Medusas grüner Käfer hielt vor einer kleinen Gasse. Sie stieg aus und zog ihren Revolver aus dem Gürtel. Sie warf einen letzten Blick auf ihr Handy. Das war die Adresse. Hier war die Schachtel das letzte Mal auf den Computern erschienen. Vorsichtig bewegte sie sich weiter in die Gasse hinein. Diese war eng und dunkel, obwohl es für den späten Nachmittag noch recht hell war. Nasse Zeitungen und leere Fast Food Packungen lagen auf dem schlammigen Boden verstreut.
„Ist ja ganz toll hier.", murmelte sie.
In der Mitte der Gasse hielt sie inne und bückte sich. Misstrauisch beäugte sie eine rote Spur auf dem Boden, welche ganz deutlich aus Blut bestand. „Was haben wir denn da?"
Sie richtete sich wieder auf und folgte geduckt der Spur. Diese führte zu einem heruntergekommenen Haus. Die Tür war nicht verschlossen. Medusa öffnete sie und rümpfte die Nase. Von dem Raum dahinter kam ein unausstehlicher Verwesungsgeruch. Medusa entsicherte ihre Waffe und bewegte sich weiter vorwärts. Aus einem anderen Raum hörte sie ein schmatzendes Geräusch. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Klauenkrieger lebten in Rudeln, beinahe wie Wölfe. Es mussten also noch andere anwesend sein und anscheinend war jetzt Essenszeit. Etwas knackte unter ihren Füßen. Medusa senkte den Blick und erkannte abgenagte Knochen.
Sie atmete noch einmal tief durch und stieß die Tür auf, hinter der das Schmatzen hervorgeklungen war. In dem Raum befanden sich drei Klauenkrieger, doch keiner von ihnen war Kai. Medusa zögerte nicht lange und verpasste zwei der drei eine Kugel in den Kopf, bevor sie sich auf sie stürzen konnten. Sie sanken kraftlos zusammen. Der Dritte von ihnen, ein Mann im mittleren Alter, fletschte die blutverschmierten Zähne. „Sie stören beim Essen.", zischte er.
Medusa warf einen Blick auf den leblosen und beinahe aufgefressen Körper einer jungen Frau und zuckte mit den Schultern. „Sieht sowieso nicht appetitlich aus. Menschen fressen ist verboten. Wenn Sie nicht so enden wollen, wie ihre Kollegen da, sollten Sie mir jetzt genau erzählen was ich wissen will."
Die Augen des Mannes funkelten. Dann sprang er auf Medusa zu und fuhr die Krallen aus. Medusa verzog keine Miene, sondern drückte den Abzug des Revolvers und schoss dem Mann ins Knie.
„Kommen Sie schon. Spielen sie mit. Kennen Sie einen Kai?"
Der Mann presste eine seiner Pranken auf die Wunde. „Warum sollte ich es Ihnen sagen?"
„Warum nicht?"
„Warum sollte ich?"
„Warum nicht? Ach wissen Sie, das macht so keinen Spaß. Ich denke ich werde Sie jetzt einfach erschießen und dann schaue ich mir noch etwas um."
Der Mann hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut. Kai lebt tatsächlich in unserem Rudel. Er ist vor einer guten Stunde aufgebrochen."
„Wohin genau wissen Sie nicht?"
„Nein, wir reden nicht über unsere Aufträge. Sie wissen schon, damit sowas wie das hier nicht passiert."
„Hatte Kai gestern etwas bei sich? Eine Schachtel vielleicht?"
Der Mann runzelte die Stirn. „Eine Schachtel nicht, aber einen Beutel. Rot war er glaube ich."
Medusa seufzte. „Na toll, das erklärt, warum wir die Schachtel nicht finden können."
„Lassen Sie mich jetzt gehen?"
Medusa drückte den Abzug ihres Revolvers erneut und sah dabei zu wie der Mann rücklings zu Boden fiel. „Das war ja sehr aufschlussreich.", murrte sie und warf einen letzten Blick auf die Leiche. Die Augen der Frau waren schreckgeweitet und ausdruckslos. Medusa hockte sich neben sie und schloss ihre Augen. „Es tut mir leid.", flüsterte sie, „Es tut mir so leid."

Medusa-Die Frau im TrenchcoatWo Geschichten leben. Entdecke jetzt