Jisung PoV
Der nächste Tag kam und meine Schmerzen waren so gut wie vergessen. Natürlich waren sie noch da, aber ich nahm sie ganz anders wahr. Sie waren nun nicht mehr als nur ein unangenehmer Druck in meiner Magengrube und in meinem Gesicht und so konnte ich zur Schule, ohne dass man mir zu sehr anmerkte, wie kaputt ich eigentlich war.
Mit müden Augen verfolgte ich die Aktionen unserer Lehrerin, die an der Tafel etwas erklärte. Ob sie andere Schüler hatte, denen es genauso ging wie mir? In diesem Raum wahrscheinlich nicht. Die anderen Schüler schienen zwar gelangweilt, doch sie waren nicht taub gegenüber ihren Gefühlen. Wenn sie einen schlechten Abend gehabt hatten, würden sie nicht am nächsten Tag aufwachen und all den Schmerz wieder vergessen haben. Sie würden noch wissen, wie es sich angefühlt hatte. Oder war ich der einzige, der es nicht verstecken konnte?
Der Vormittag zog vorbei und ehe ich mich versah, stand ich wieder vor dem Jungen, der mich auf eine grausame Art und Weise fühlen ließ. Doch wie bereits gesagt: Schmerzen waren immer noch besser als nichts.
"Du bist jämmerlich, weißt du das?", fragte er und sah mir in meine ausdruckslosen Augen. Er suchte nach etwas, dass ihm sagte, dass er es geschafft hatte, mich zu verletzen, doch das würde er nicht finden. Stattdessen stieß er auf eine Wand aus Gleichgültigkeit.
"Du wartest echt jeden Tag hier darauf, dass ich dich schlage. Du wehrst dich ja nicht mal. Einfach nur erbärmlich..."
Er hatte Recht. An einigen Tagen hatte ich tatsächlich auf ihn gewartet, doch ich hatte einfach angenommen, dass er schon früher gegangen war und nicht, dass er mir dabei zu sah, wie ich hier auf ihn wartete. Aber er hatte dennoch keine Ahnung davon, wieso ich es tat. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, jemals richtig mit ihm geredet zu haben. Selbst wenn er mich ansprach, sagte ich nie etwas und inzwischen würde es mich nicht wundern, wenn er dachte, dass ich stumm war.
"Hast du nicht auch vor, mal etwas dazu zu sagen? Oder willst du dich lieber weiter stumm schlagen lassen?"
"Du hast Recht.", erwiderte ich und lachte kurz verächtlich. "Ich bin erbärmlich und jämmerlich. Das sind wir beide. Wir sind kaputt, Minho. Und wenn du etwas anderes sagst, belügst du dich nur selbst."
Er antwortete nichts, sondern sah mich bloß an. Ich konnte Verwirrung in seinen Augen erkennen. Ebenso wie Überraschung und Schmerz. Als könnte er nicht verstehen, dass ich ihm gerade nichts als die Wahrheit ins Gesicht gesagt hatte.
"Hast du noch vor mich zu schlagen oder darf ich nach Hause? So langsam bekomme ich Hunger und ich muss noch einkaufen gehen, also wäre es gut, wenn du dich schnell entscheidest."
"Geh einfach.", antwortete er und starrte mich weiter an.
"Okay, dann bis Morgen.", verabschiedete ich mich noch, als wäre er einer der Freunde, die ich nicht hatte, ehe ich ging und mir meine Kopfhörer aufsetzte, aus denen nun leise Musik dröhnte. Wenn Minho sich umentscheiden wollte, war er zu spät oder er musste mir hinterher laufen, denn zurück gehen würde ich nicht. Dennoch warf ich ihm einen letzten Blick zu, der mir verriet, dass er sich auf den Boden vor der Wand, gegen die er mich gestern gedrückt hatte, gesetzt hatte und nicht aussah, als würde er sich dort bald wieder weg bewegen. Wenn er sich da den Arsch abfrieren wollte, dann sollte er doch.
Bei mir zu Hause stellte ich eigentlich nur meinen Rucksack ab, nahm mir das Geld und die Einkaufsliste und machte mich dann wieder auf den Weg zum nächsten Laden. Als ich dabei wieder an der Schule vorbeikam, saß Minho dort immer noch, doch mehr als einen kurzen Blick bekam er von mir nicht.
Erst als ich ihn auf dem Rückweg weiter dort sitzen sah, schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit und ging zu ihm.
"Hast du irgendwie kein Zuhause oder warum sitzt du hier noch?", sprach ich ihn an.
"Geht dich nichts an.", antwortete er.
"Du bist nicht du, wenn du hungrig bist.", grinste ich und hielt ihm ein Snickers hin. Er konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen und aß das Snickers. "Lust mit zu mir zu kommen? Ich denke, wir könnten beide ein wenig Gesellschaft gebrauchen."
"Warum gehst du nicht einfach zu deinen Freunden? Die sind dir bestimmt lieber als ich."
"Hab keine."
"Ach komm schon. Jeder hat irgendwen."
"Weißt du, eigentlich wollte ich mir heute einen im Supermarkt holen, aber die waren schon ausverkauft, deshalb hab ich keine. Also? Was sagst du zu mir als Gesellschaft und einem warmen Mittagessen?"
"Klingt zu verlockend. Ich hatte schon länger nichts mehr warmes zu essen. Bist du eigentlich immer so gesprächig?", fragte er und stand auf, sodass wir zu mir nach Hause gehen konnten.
"Eigentlich nicht, nein. Es gibt Tage, an denen ich vielleicht 5 Wörter sage. Besonders wenn ich nicht in der Schule bin. Mit wem sollte ich denn auch groß reden?"
"Mit deiner Familie?"
"Bin Einzelkind und Halbwaise. Meine Mutter ist auch nicht gerade die Art Mensch, mit der man gerne über seinen Tag redet. Sie redet sehr viel über ihre eigenen Probleme, wenn sie denn mal da ist. Aber ich muss dich ja jetzt nicht mit meinen Problemen nerven. Du hast schließlich deine eigenen und ich bin mir sicher, dass das auch für dich nicht gerade einfach ist."
Er erwiderte nichts, sondern lief einfach stumm neben mir her, bis wir in meinem Haus ankamen, dass nur ein paar Straßen entfernt von der Schule lag.
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The Boy in the bubble || Minsung
Fanfiction["We're broken, Minho. And if you think anything different, you're lying to yourself."] Lee Minho ließ Han Jisung fühlen. Er erinnerte ihn daran, dass noch Blut in seinen Adern floss. Doch wie hätte er das vergessen können, wenn er es auf seiner Zun...