Kapitel 15

108 1 0
                                    

„Seit wann kannst du so schnell fliegen?" der Engel neben mir atmete laut ein und aus. Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht seit dem ich weiß, dass meine Mom mich nicht mag." Das drückende Gefühl auf meiner Brust ignorierte ich absichtlich. „Gott-" setzte der Engel an, doch ich unterbrach ihn. „Nicht ein Engel würde einem Menschen die Liebe zu ihrem Kind nehmen. Alles, was Mom sagte, war gelogen. Sie liebt mich nicht wie ihr eigenes Kind. Sie hasst mich" Ich verdeckte mein Gesicht mit den Händen. Auch wenn ich nicht vor ihm weinen wollte, konnte ich es nicht mehr zurückhalten. Die Strafe war zu viel. Ich konnte doch nichts dafür, was Mom früher getan hatte und jetzt musste ich alles ausbaden. „Josy, hör mir zu" Raziel nahm meine Hände von meinem Gesicht herunter und wischte mit seinem Daumen meine Tränen weg, was im Grunde nicht viel brachte, weil direkt neue kamen. „Gott hat es gemacht, weil sie sich zu viel Schuldgefühle machte. Michael war so verdammt wütend und eifersüchtig auf deinen Vater, dass er deine Mutter so unter Druck setzte, dass sie sich umbringen wollte. Nicht nur einmal. Deine Mom wollte dich nie hassen. Tief im Inneren liebt sie dich sehr und sie würde dich niemals als einen Fehler betrachten. Das hatte sie durch die halbe Inselstadt geschrien. Danach soll Michael zu Gott gelaufen sein und hätte ihm den Vorschlag gemacht. Wie oft saß ich Abends mit Gott im Büro und habe überlegt, ob wir es machen oder nicht. Wenn sich zwei Seelenverwandte, die dazu noch Erzengel sind, streiten, dann kommt es zum Ungleichgewicht. Die Welt könnte dem Ende geweiht sein oder alles könnte verrückt spielen. Jeder Engel hat seine Aufgabe und wenn man sie falsch macht, geht es kaputt. Es zerfällt. Wir konnten nichts machen, außer deiner Mutter die Liebe zu dir zu nehmen."

Nicht einmal unterbrach der Erzengel den Augenkontakt. Ich schwieg und mir liefen immer weiter Tränen über die Wange, je mehr er redete. Mit seinem Daumen strich er meine Tränen weg und meine Falten glatt. Es tat so weh. Mom liebte mich nicht mehr so wie früher, ich hingegen liebte sie umso mehr. Und genau das war es, was mich traurig und wütend machte. Diese unerwiderte Liebe meiner Mutter. „Es tut so weh" flüsterte ich und meine Tränen wurden mehr, statt weniger zu werden. Raziel umarmte mich heftig und ich versteckte mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Meine Hände lagen auf seinem Rücken und seine auf meinem. Mein Herz raste, ob es nun an der Umarmung lag oder an meinen Tränen wusste ich nicht. „Lass uns zu mir gehen. Dann bist du nicht alleine, hast ein warmes Bett und vernünftiges Essen" Ich nickte trostlos und begann mit meinen Flügeln zu schlagen. Raziel hielt meine Hand fest umschlungen und führte mich zu seinem Haus. Die Sonne ging langsam unter und ich begann schon zu frösteln. Raziel schloss die Tür auf und ließ mich zuerst eintreten. Wir zogen im Eingangsbereich unsere Schuhe aus und liefen dann weiter zur Küche. Mein Magen knurrte, weil ich seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. „Reicht Aufbackpizza? Ich esse nicht oft hier und das geht am schnellsten. Ich könnte natürlich auch Nudeln machen" Er sah fragend zu mir und ich erwiderte seinen Blick. „Aufbackpizza ist gut." Lächelte ich ihn an, jedoch war es mehr eine hässliche Grimasse, weil mir nicht zum Lachen zu Mute war. Ich schien auch seine Laune ziemlich Runter zuziehen, obwohl er es versuchte zu vertuschen.

„Du musst das nicht machen" sagte ich nach langer Zeit in die Stille, die sich gebildet hatte, nachdem er die Pizza in den Ofen geschoben hatte. Raziel begann den Tisch zu decken und ich stand nur unbeteiligt daneben. „Ich mache das gerne, du hast erfahren, was die Strafe deiner Mutter war. Eigentlich ist das das Mindeste, was ich für dich machen kann" Als er das sagte, hob er seinen Kopf und sah direkt zu mir. Vorher hatten wir diesen Augenkontakt bewusst vermieden. Ich sah betrübt auf den Boden, tatsächlich war mir das sogar ein Stück unangenehm. „Danke" murmelte ich vor mich hin und traute mich dennoch nicht ihn anzusehen. „Das ist selbstverständlich" Ich spürte einen leichten Windstoß und danach seine Finger an meinen Wangen. Langsam drückte er mein Gesicht hoch, sodass ich ihn wieder ansehen musste. Seine blauen Augen stachen in meine blauen. Immer wieder huschte sein Blick über mein ganzes Gesicht, wobei er ziemlich lange bei meinen Lippen hängen blieb und mir danach wieder in die Augen sah. Zum Glück ertönte im nächsten Moment ein lautes Piepen. „Die Pizza" hauchte ich verwirrt. Was auch immer das gerade war, es war unangenehm und komisch. Das vor mir war Raziel, der Engel, der die Schattenjäger erschuf. Er war einer der ältesten Engel und ich? Ich war eine Halbdämonin. Er durfte mir nicht den Atem nehmen. Das durfte allerhöchstens mein Seelenverwandter.

JosephineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt