Im Quellgebiet der Emme liegt ein kleiner Ort, Kemmeriboden. Als Kinder sind wir oft dort herumgerannt. Es war vor vielen Jahren ein Kurbad, hat man uns erzählt. Einmal durften wir in den Raum mit dem Schwefelbad gehen. Für uns Kinder war das spannend, die Nasen haben wir trotzdem gerümpft, sie uns zugehalten. In der Fantasie haben wir uns schicke Damen vorgestellt, welche sich zum Bade haben geleiten lassen. Menschen, welche extra zur Kur ins Dorf unserer Grosseltern gefahren sind. Gesehen haben wir aber vor allem die vielen Spinnen in und an den alten Gebäuden. Seit der Zeit um den zweiten Weltkrieg gibt es hier Merängge zu essen. Auch das war ein Grund, weshalb wir immer wieder gerne mit unseren Grosseltern hierher kamen. 1988 wurde der Badbetrieb eingestellt. Ich erinnere mich daran. Für mich folgte eine lange Zeit der Absenz. Die alten Häuser aber dienten weiter ihren Gästen und Betreibern und tun es noch heute. Wenn Gebäude sprechen könnten, was würden sie uns wohl erzählen? Wie viele Geschichten schlummern in den alten Holzdielen?
In einer hübsch aufgemachten, kleinen Broschüre kann der heutige Gast im Hotel einiges über die Geschichte der Gebäude, des Ortes erfahren. Aus einer Alp wurde mit der Entdeckung einer Quelle der Kurort Kemmeriboden Bad, das war schon 1715. Mehr als hundert Jahre später entstand die erste Gastwirtschaft. Die Gebäude liegen unter dem Hohgant, direkt an der Emme. Die gedeckte Holzbrücke wurde in der Geschichte des Ortes mehrmals weggerissen, als ob die Emme nicht einverstanden wäre, dass hier, an diesem ruhigen Ort, Menschen hinkommen. Nach und nach durch die Jahrhunderte wurden die Gebäude sanft erneuert und neuen Bestimmungen angepasst. Jede Generation hat dabei ihre Spuren hinterlassen und dennoch die Geschichte gewahrt und geehrt.
Noch heute ist die Gaststube das Ziel vieler Wanderer und Fahrradfahrer. Wie seit eh und je hält das Postauto direkt vor den Gebäuden, auch wenn schon längst nicht mehr "Saurer" auf dem gelben Autobus steht. Die Gebäude bieten heute Platz für Seminare und Hochzeiten. Wenn sich das stattliche Haupthaus an jede Hochzeit erinnern könnte - was würde es wohl erzählen? Noch mehr Geschichten - schöne und traurige. Die gedeckte Holzbrücke führt noch immer zum Hotel. Im Winter kann es schon einmal passieren, dass man die Strasse nicht mehr sieht, vor lauter Schnee. Nach vielen Jahren kehre ich an den mir einst so vertrauten Ort zurück. Sobald ich die Gaststube betrete, bin ich zuhause. Auch wenn die Angestellten emsig umher wuseln, entsteht nie ein Gefühl von Stress. Im Gegenteil, es herrscht eine eigenartige Ruhe. Man hat Zeit für einen kurzen Schwatz, erfährt, dass die freundliche Bedienung nie mit ihrem Bruder essen gehen würde. Ich sitze mit meiner Schwester hier. Spass muss sein. Es ist, als ob die alten Holzbauten ihre ganze Gelassenheit, welche man sonst nur von Grosseltern kennt, ihre Altersmilde, auf die Besucher übertragen könnten. Nicht einmal die ab und zu landenden Hubschrauber können die Ruhe vertreiben, trotz ihres grossstädtischen Lärms und dem Geruch von Big Business.
Kemmeriboden ist ein Kraftort, da bin ich mir sicher. Eingepfercht zwischen Hohgant und Schiibegütsch, umspült von der noch jungfräulichen Emme. Hier tankt man Energie, Freude und Zufriedenheit. Mit warmem Charme und sehr gutem Gespür für sanften Tourismus hat die jüngste Generation der Besitzer heute ein Hotel in Betrieb, das die Menschen in Heu und Arvenspäne packt. Auf hohem Niveau rundum wohl. Das ist das Gefühl, welches einen einnimmt, sobald man durch die Türe geht. Alle Sinne werden verwöhnt, am meisten jedoch der Gaumen. Von liebevollen, freundlichen Menschen wird man mit den leckersten Gerichten bedient. Die Merängge, gross wie seit Kindertagen, hat meistens längst keinen Platz mehr, und sie schmeckt dennoch verführerisch gut. Trotz der noblen Aufmache ist der Ort ein Treffpunkt für Einheimische, für Wanderer und für den Postautofahrer geblieben. Der Familienbetrieb verbreitet Sympathie.
Tagsüber kann man der Emme entlang gehen, ihre zahlreichen Pools und die tiefe Schlucht in Richtung ihrer Quelle dienten uns als Kinder zum Bade. Jedes Mal, wenn ich wieder hierher komme, packt mich grosse Ehrfurcht. Einerseits vor den Menschen, welche vor vielen Hundert Jahren hier die ersten Gebäude errichtet haben. Hier, am Ende der Welt, wo im Winter wochenlang die Sonne niemals hin scheint. Andererseits vor den Generationen von Menschen, welche mit Liebe und Hingabe einen Ort bewahrt, erschaffen und entwickelt haben, der von der Geschäftigkeit, von der Schnelllebigkeit ablenkt. Ein Ort, der einen an den wahren Lebenszweck erinnert: an das Sein. Hier kann ich einfach sein und die Ruhe geniessen. Dann und wann knarrt ein Balken, zittert ein Fussboden. Das Haus will mir etwas erzählen. Ich höre hin und je mehr ich höre, desto mehr Geschichten fallen mir auf. Viele von den Geschichten werde ich leise schmunzelnd für mich behalten, einige fliessen in Texte wie diesen ein. Zeit ist relativ. Vor allem hier im hintersten Emmental. Kemmeriboden hat mich wieder und ich bin dankbar dafür.
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Einerseits ... Fortsetzung
RandomWeiter gehts mit den Texten auf einer Seite. Beobachten und Schreiben machen solchen Spass - da muss ich einfach dran bleiben.