Ein guter Freund

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Anlässlich des Wissenschecks des neunten Schuljahres (Sekundarstufe I; Abschlussklasse; normierter Leistungstest gemäss PISA) habe ich für einen meiner Schüler den Aufsatz verfasst. Als Thema war folgendes vorgegeben:

Was erwartest du von einer guten Freundin oder einem guten Freund?

Gute Freundinnen und Freunde sind mehr als nur Kolleginnen und Kollegen oder als andere Bekanntschaften. Sie zeichnen sich durch besondere Eigenschaften aus. Was macht für dich eine gute Freundschaft aus?

Verfasse einen Text, in dem du deine persönliche Sicht darlegst. Beantworte dabei folgende Fragen:

· Welche Eigenschaften sollte für die eine gute Freundin / ein guter Freund haben?

· In welchen Situationen bist du froh, eine gute Freundin / einen guten Freund zu haben?

· Was könntest du einer Freundin / einem Freund nicht verzeihen?

Anmerkung: Im Text verwende ich absichtlich wechselnd die männliche und die weibliche Form von "Freund" - es gelten jeweils alle möglichen Formen.

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Ein guter Freund

Im Leben gibt viele Veränderungen, welche uns immer wieder vor neue Aufgaben stellen, uns aber im Gegenzug neue Bekanntschaften bescheren. Unser Beziehungsnetz wächst beständig und wird gleichzeitig kleiner. Man könnte es mit einer Wolke vergleichen, die mal grösser und mal kleiner, mal dichter und mal lockerer erscheint, abhängig von Kraft und Richtung des Windes des Lebens.

Die Menschen, welche uns auf dem Lebensweg begleiten, stehen uns unterschiedlich nah. Im Zentrum steht von Geburt an die Familie, die Eltern und die Geschwister - am anderen Ende, extrem weit entfernt, bewegen sich die Unbekannten, fremde Menschen, mit denen ich schweigend im Zug fahre oder die ich zufällig auf dem Gehweg kreuze.

Sobald eine Interaktion mit einem Menschen stattfindet, rutscht dieser Mensch in meinen Kreis der Bekannten. Dieser Kreis ist sehr gross; handelt es sich dabei doch um alle Menschen, mit denen ich im Laufe meines Lebens je gesprochen habe.

Mit allen Bekannten läuft das Gefühlsspiel von Sympathie, Antipathie oder Gleichgültigkeit ab. Im Falle einer Sympathie gleitet eine bekannte Person in den nächsten Kreis, eine Stufe näher bei mir, zu den guten Bekannten, den Kumpeln, den Kolleginnen und Kollegen. Diese Bewegung kann auch durch äussere Rahmenbedingungen gegeben sein, wie etwa Wohnort, Arbeitsplatz oder Vereinsleben. Kolleginnen hat man viele; mit ihnen hat man Spass, arbeitet zusammen, singt, macht Sport oder ist im selben Verein. Auch Nachbarn gehören dazu.

Besonders enge Kollegen, mit denen man sich häufiger trifft, nennt man mit der Zeit Freunde. Es sind jene Menschen, die mir etwas bedeuten, die mir wichtig sind. Auch Freunde hat man in der Regel viele. Enge Freunde hingegen hat man bloss wenige. Während, wie eingangs erwähnt, der Freundeskreis sich ständig verändert, bleiben die engen Freunde ein Leben lang. Sie sind meine wichtigsten Bezugspersonen neben der Familie und der Partnerschaft.

Enge Freunde wissen alles über mich. Ihnen kann ich auch Dinge anvertrauen, die ich meiner Mutter oder meiner Partnerin nicht sagen würde. Enge Freunde verstehen mich ohne Worte und hören dennoch aktiv zu, wenn ich ihnen etwas anvertraue oder erzähle. Sie stehen mir in schwierigen Situationen bei, helfen mir, wenn ich Hilfe brauche und verbringen wertvolle Lebenszeit mit mir, weil wir uns gegenseitig wichtig sind.

Ich vergleiche enge Freundschaften mit empfindlichen Pflanzen. Sie brauchen Nahrung und Pflege sowie auch Zuneigung. Als Nahrung dienen all die fröhlichen, lustigen Momente oder die vielen kleinen Aufmerksamkeiten, die wir austauschen.

Eine gute Freundin ist ehrlich, auch wenn es wehtut. Sie sagt mir offen, was sie denkt und diskutiert mit mir über mögliche Wege und Lösungen aus einer Krise. Einer guten Freundin kann ich alles verzeihen, weil wir offen und ehrlich darüber diskutieren, uns austauschen können. Auch wenn die Beweggründe für ein, aus meiner Optik falsches, Verhalten nicht nachvollziehbar sind, werde ich ihr verzeihen, ihr Handeln akzeptieren. Sonst wären wir keine guten Freunde.

Meiner Auffassung nach ist es genau das, was einen guten Freund ausmacht. Ich muss nicht entscheiden, ob ich ihm verzeihen kann oder will - es ist von Beginn weg klar, dass ich es tun werde; selbst wenn dabei Narben zurückbleiben sollten. Glücklicherweise muss ich einer wirklich guten Freundin nie etwas Schlimmes verzeihen, weil durch unsere gute Freundschaft bereits vorbestimmt ist, wie sie handeln wird. Gute Freundschaft wird nie in Frage gestellt.

Ab einem gewissen Alter, der Zeitpunkt ist nicht genauer definierbar, wissen die engen Freunde mehr über mich als meine Familie. Sie werden zu meiner zweiten Familie, die mir eine gemeinsame Zufriedenheit, innere Ruhe, Heimat gibt.

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Wie das wohl bewertet wird? Wir sind alle gespannt. Bestimmt jedoch werden die Testverantwortlichen leicht erstaunt sein, von einem Sprachheilschüler, der zudem autistische Züge zeigt, diesen Text zu erhalten. Hihi.

Einerseits ... FortsetzungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt