Abschlussarbeit

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Das Studentenleben ist ein Segen.

Wochenlang bleibt die Uni oder die Fachhochschule über die herrlichen Sommermonate geschlossen, die Studenten gehen anderen Neigungen und eigenen Ideen nach, leben, um sich danach im Hörsaal erholen zu können, sobald die Vorlesungen wieder beginnen. Die meisten Inhalte der Vorlesungen kann die technisch versierte und fleissige Studentin im Internet finden und sich so fundiert auf die Abschlussprüfungen vorbereiten.

Ein wahrlich gesegnetes Leben, wäre da nicht eine Chimäre mit Namen "Studienarbeit": die Facharbeit, die Abschlussarbeit, die Dissertation oder die Diplomarbeit - sie hat viele Namen.

Diese Chimäre ist anders als alle, welche wir aus der Mythologie oder der Medizin kennen. Sie ist bösartig, sie kennt die vierte Dimension, sie ist die Antagonistin jedes Studenten und jeder Studentin, welche den Plot des ach so schönen Buches mit Namen "Studium" stört.

Zuerst erscheint die Arbeit niedlich, elfengleich, nicht von dieser Welt und in scheinbar unendlicher Entfernung. Sie stellt keine unmittelbare Bedrohung dar, schwebt wie eine Federwolke, welche den unendlich blauen Studentenhimmel bloss ziert und bereichert. Sie erzeugt keine Angst und erhält ebenso wenig Aufmerksamkeit oder Respekt. Die Auswirkungen dieses studentischen unbekümmert Seins werden wir später näher betrachten. Vorläufig jedoch lassen wir die Student*innen feiern, Vorlesungen schwänzen, Termine verpassen und das Geld ihrer Eltern oder Mäzene verprassen.

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, es wird Winter. Die Nächte werden länger, was automatisch zu längeren Studentenpartys führt. Vorlesungen dimmen durch den Nebel, der sich auf die Köpfe niederlegt. Gut getarnt, versteckt unter den Notizen und hinter Fachbüchern, wächst die Chimäre heran. Sie erhält einen graugrünen Schuppenpanzer, auf ihren sechs Füssen bilden sich Widerhaken. Noch erscheint sie nicht im Blickfeld der Studenten. Ihr Schatten mag an ihre Existenz erinnern, ihr Bild jedoch ist noch immer das der lieblichen, weit entfernten Federwolke.

Irgendwann im Frühling, wenn die Studentinnen um ihre männlichen Kollegen schwärmen, sich Hormone und Wiesenblumen entfalten, findet sich unter den staubigen Dozenten bestimmt ein buckliger Kerl mit Hornbrille, welcher mit seiner heiseren Stimme, dämonengleich, die Chimäre herbeiruft. Die dunkelste Studentenstunde ist da. Sie sitzen mit wirren Frisuren, offenen Hemden und weit aufgerissenen Augen, schockiert, im Saal, betrachten das riesige Wesen, welches zähnefletschend die Bühne betritt. Sie ist furchterregend, diese ausgewachsene Chimäre. Sie beherrscht die Zeit wie deren Hüterin in arabischen Sagen. Sie bestimmt, für wen die Zeit noch reicht und wem sie durch die Finger rinnt wie feiner Sand.

Nun laufen die Akkus der Tablets und Notebooks heiss, um jede Steckdose im Gebäude wird hart gekämpft und die Studenten rennen der WLAN-Verbindung hinterher. Die Chimäre jedoch beherrscht die vierte Dimension. Abhängig von der verbleibenden Zeit, lässt sie Drucker austrocknen, Verbindungen abbrechen und Datensticks sich auf magische Weise entleeren. Die oben erwähnte Folge der Sorglosigkeit ist Verzweiflung. Stress, Bluthochdruck, Schlafstörungen und Reizbarkeit sind bekannte Nebenwirkungen der Krankheit, gegen die es keine bekannte Medizin gibt. Hat dich die Chimäre in ihrem Fokus, gibt es kein Entrinnen. Wie ein Krake zieht sie Studenten zum Abgrund, der ihr eigener Rachen ist. Ihre Zähne bohren sich in das süsse Studentenfleisch, zerreissen es wie der Sturmwind die zarte Federwolke.

Nach unzähligen Folterstunden im Kerker der Chimäre sitzen kleine, fahle, ausgehungerte Wesen mit schwarzen Rändern unter tiefen Augenhöhlen vor bläulich flimmernden Bildschirmen, schütten sich zwischen zwei Kapiteln mit Energydrinks voll und halten sich mit dröhnenden Bässen wach. Sie tippen unzählige Seiten mit Fachbegriffen und Fremdworten voll, sie verfassen ganze Bücher voller Worte, die niemand versteht. Sie verschriften wirre Gedanken und zitieren grosse Wissenschaftler. Sie kreieren Texte, ohne etwas zu sagen. Texte nur der Texte willen, vorprogrammierte, einkalkulierte Makulatur.

Dann der Moment der Erlösung: Sie ist fertig, die Abschlussarbeit. Die Chimäre ist besiegt, tot. Die Sieger fühlen sich wie die Drachentöter des Mittelalters. Das Koffein ihrer Drinks weicht dem körpereigenen Adrenalin. In den folgenden Tagen wird der Student erst einmal duschen, den Mief vergangener Archivarbeit abspülen. Nach und nach schleichen die siegreichen Wesen frisch geduscht und aufgebrezelt aus ihren Kellerlöchern, stöckeln in prächtige Festsäle und lassen sich ihr Diplom überreichen.

Das Studentenleben ist ein Segen, denn die Chimäre ist bloss ein nicht existierendes Fabelwesen der Antike. Oder etwa doch nicht?

Einerseits ... FortsetzungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt