Blickwinkel

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ICF und ICD-10 sind die neuen Normen, nach denen Menschen katalogisiert und eingestuft werden können. Anhand genauer Definitionen kann gesagt werden, was dem beurteilten Menschen fehlt, wo seine Defizite sind und welche Therapie er braucht. ICF zielt dabei mehr auf den Menschen als Ganzes, auf seine Persönlichkeit und sein Umfeld ab. ICD-10 bewertet mehrheitlich medizinische Kriterien. Was in der Medizin und Therapie fortschrittlich, objektiv und effizient klingen mag, erscheint mir im Kern ziemlich fragwürdig.

Ich habe schon meine grosse Mühe damit, wenn bei der Beobachtung und der Beurteilung eines Menschen das Wort 'objektiv' verwendet wird. Denn das kann es niemals sein. Ein Mensch ist nie objektiv, weder in seinem Denken noch wenn er beobachtet oder beurteilt wird. Vor allem deswegen nicht, weil die ihn beobachtenden und beurteilenden Menschen eben auch bloss Menschen sind.

Codes und Nummern mögen in der Welt der Farben durchaus Sinn ergeben. Ich möchte meine Wand gerne in RAL9010 gestrichen haben, dazu eine Verzierung in NCS S4020-Y80R. Jeder mit einer Farbkarte und einer entsprechend fähigen Farbmischmaschine wird mir die korrekten Farben mischen und auftragen. Nun leidet meine Tochter aber an ICF d140. Was soll ich ihr jetzt empfehlen, was kann ich für sie tun? Logisch kann auch hier jede gut ausgebildete Fachperson mit dem entsprechenden Grundwissen und dem richtigen Code-Schlüssel für meine Tochter eine sicher erfolgversprechende Therapie zusammenstellen, keine Frage, das zweifle ich keinen Moment an. Wird das Mädchen deswegen besser und schneller lesen lernen? Es bleibt zu hoffen. Vielleicht ist sie aber auch einfach bloss am Tag des Tests abgelenkt gewesen, vielleicht hatte sie Bauchschmerzen oder sie dachte noch an den kleinen Igel, den sie auf dem Schulweg gesehen hat. Ich kann einen Menschen nicht mit Codes und Zahlen bewerten oder beurteilen, seine Welt, sein Wesen sind zu subjektiv.

Man stelle sich mal folgendes Szenario vor:

Ein engagierter und empathischer Lehrer unterrichtet Tag für Tag seine heterogene Klasse, mit individuellen Programmen für die meisten seiner Schüler. Die 22 Schüler haben hinter sich 22 Elternpaare stehen. Von den 22 Elternpaaren sind drei unzufrieden, aus verschiedenen Gründen, die für das Beispiel nicht mal wichtig sind. Die 3 Elternpaare melden sich bei der zuständigen Schulleitung, während die zufriedenen oder gar glücklichen Elternpaare alle schweigen. Die moderne und nach allen Normen und Richtlinien geprüfte und zertifizierte Schule entlohnt ihre Mitarbeiter nach Leistungskriterien. Unser Lehrer erhält folgende Noten: Negativ drei gegen positiv null. Seine Bewertung fällt negativ aus. Er ist ein schlechter Lehrer, das beweist die objektive Beurteilung nach sorgfältig festgelegten Kriterien. Bei 3:0 gewinnt auch im Sport immer die 3, nie die 0. Wenn wir die Sache etwas genauer betrachten, so hat der Lehrer 19 positive, aber leider nicht vorhandene, Rückmeldungen. Gemessen wird er an den 3 negativen Meldungen.

Genau das stört mich an der eingangs erwähnten Skala, an dieser Art der Beurteilung und Messung. Wer definiert, was normal ist? Wo sind die Betrachtung und die Wertschätzung der guten Dinge meiner Tochter? Wieso richten wir den Blick immer nur auf Defizite und Lücken anstatt die Leistungen und Stärken zu beleuchten? Ich habe auf diese Fragen keine Antworten. Aber ich spüre eine Veränderung in meinem Denken. Wenn ich meinen Blickwinkel etwas verändere, wenn ich einfach die Sehschärfe etwas anders einstelle, dann kann ich plötzlich sehr viele gute Dinge in den Menschen um mich herum erkennen, was mir Freude bereitet. Diese Freude wird letztendlich, durch mein verändertes Verhalten und meine positiv eingestellte Kommunikation, auf die Mitmenschen übertragen. Ganz ohne Therapie, ohne Codes, aber mit echter Empathie.

Lasst uns also Gutes tun, indem wir das Gute unserer Mitmenschen erkennen und vor allem auch erwähnen.

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