Über Wochen und mittlerweile Monate warte ich auf die Rückmeldung meiner Anwältin, aber nichts kommt. Ich hake schließlich nach, warum es so lange dauert. Die Antwort bekomme ich schnell: „Das Gericht schreibt, es konnte keinen Zahlungseingang über die Gerichtskostenvorschussrechnung verzeichnen und hat daher keinen Termin anberaumt."
Als mich diese Nachricht erreicht sitze ich auf einem Campingplatz in Brandenburg zusammen mit einer Freundin. Wer schon einmal im tiefsten Brandenburg war weiß: da gibt es höchstens Edge. Handyempfang und mobiles Internet sind eher Fehlanzeige. Dennoch lasse ich nichts unversucht, sowohl in meinen E-Mails und in meinen Kontoauszügen die Unterlagen zusammenzusuchen, die belegen, dass ich bezahlt habe. Es dauert nur 45 Minuten, bis mit das schneckenlangsame Netz alles herunterladen und miteinander vergleichen lässt. Ich schicke alles an meine Anwältin und ab jetzt heißt es wieder: warten. Daran habe ich mich in den vergangenen Wochen schon gewöhnt. Mental bin ich darauf eingestellt, dass es nun noch einmal drei bis vier Monate dauert, bis ich einen Scheidungstermin bekomme.
Die Erlösung erfolgt eine Woche später, als ich im Büro einen Anruf der Kanzlei verpasse. Ich blicke auf mein Display, aber kann die Nummer nicht zuordnen. Ich ziehe mich in einen Konferenzraum zurück, schließe die Tür und rufe zurück. Es meldet sich die Fachangestellte meiner Anwältin: „Schön, dass Sie zurückrufen. Wir konnten nämlich zwischenzeitig klären, dass Sie in der tat bezahlt haben, aber aufgrund von Corona haben die einzelnen Einrichtungen nicht ordentlich miteinander kommuniziert. Wie dem auch sei: Wir haben einen Rückruf eines Richters erhalten, bei dem kurzfristig ein Termin frei geworden ist. Der Termin wäre in drei Wochen. Möchten Sie ihn annehmen?" Sofort schießen mit Tränen der Erleichterung in die Augen. Ich antworte: „Oh mein Gott, ist das Ihr ernst? Ja, um Himmels Willen, ja, ich möchte den Termin. Ich kann es gar nicht glauben!" sprudelt es überschwänglich aus mit heraus. Ich habe in drei Wochen einen Scheidungstermin. Ich kann als geschiedene Frau meinen nächsten Lebensabschnitt beginnen.
12. August, drei Wochen später, stehe ich zusammen mit einer Freundin vor dem Gerichtsgebäude in Pankow. Ich war zu nervös, um alleine hierher zu kommen. Nadine hält mir die Hand und fährt schlussendlich auch das Auto, weil ich am ganzen Körper zittere und keinen klaren Gedanken fassen kann. Heute würde ich Jonas zum ersten Mal seit dem desaströsen Abend in der Lichtenberger Kneipe wiedersehen. Sechs Monate haben wir uns nicht gesehen. Seit wir uns kennen der längste Zeitraum. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie ich mich verhalten soll, mir ist die ganze Zeit zum Heulen zumute, und das, obwohl ich mich über den Schlussstrich freue.
Als wir das Gebäude betreten, müssen wir unsere Masken aufziehen, uns ausweisen und ich muss meine Terminbestätigung vorzeigen. Überpünktlich nehmen wir vor dem Raum des Richters Platz. Irgendwie hatte ich mir die Räumlichkeiten ein wenig pompöser vorgestellt. Stattdessen ist das Gericht ein schlichtes Bürogebäude mit langen Fluren und vielen Gerichtsräumen. Nichts da mit großen Sälen, die ich dank jahrelangem Gucken von amerikanischen Krimiserien erwartet hatte. Ich versuche ruhig durchzuatmen, aber merke meine nervöse Blase, die mich alle fünf Minuten zur Toilette jagt. Mit der Ruhe ist es vollends vorbei, als Nadine sagt: „Er ist da." Ich traue mich nicht umzudrehen. „Er geht in die andere Richtung. Muss wohl auch nochmal auf die Toilette." Ich atme durch und bin dankbar um jeden Moment, in dem ich ihm nicht ins Gesicht blicken muss. Stattdessen blicke ich mich nervös nach meiner Anwältin um, die immer noch nicht da ist, obwohl unser Termin in zehn Minuten losgeht.
10:10 Uhr: Meine Anwältin taucht endlich auf, genau jetzt soll der Termin losgehen. Nur Jonas ist nicht da. Zum Glück zieht sich die Unterhaltsverhandlung vor uns ein wenig länger, sodass noch etwas Zeit bleibt Jonas zu finden. Knapp zwei Minuten später taucht er forschen Schrittes auf. „Sorry, ich hab vor dem falschen Raum gesessen", sagt er etwas aus der Puste. Ich schaffe es nicht, ihn anzuschauen, aber merke wieder Tränen aufsteigen. Meine Anwältin hat zum Glück ein gutes Gespür für die Situation. „Soll ich Ihnen kurz erklären, wie der Termin gleich ablaufen wird?" fragt sie. Ich nicke, Jonas sagt „gern". „Sobald der Raum frei ist, gehen wir zusammen rein. Ich werde bei Frau Goebel sitzen und Sie, Herr Goebel, setzen sich an das andere Ende des Tisches. Ich gehe davon aus, dass der Termin maximal fünf Minuten dauert. Das bedeutetm dass der Richter kurz die Eckdaten zusammenfassen wird, also Ihre Namen, Geburtstage, Datum der Hochzeit und die wichtigsten Regelungen aus Ihrer Trennungsfolgenvereinbarung. Dann wird er Sie frage, ob Sie beide der Scheidung zustimmen und das war es dann auch schon." Ich blicke zu Boden und traue mich immer noch nicht, Jonas anzuschauen. Zu groß ist die Angst, was das mit mir macht. Dann geht es auch schon los.
Der Richter ist ein sympatisch aussehender Mann etwa Ende 40. Er strahlt uns breit an: „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, beim vorherigen Termin kam der Ehemann zu spät und nun verschiebt sich alles ein wenig nach hinte. Ich würde noch einmal das Fenster aufmachen, wenn sie nichts dagegen haben." Ist uns allen Recht. Der Gerichtsraum sieht zum Glück schöner aus als der Flur. Die Wände sind mit dunklem Holz verkleidet. Der Richter ist durch eine Plexiglasscheibe von uns getrennt. Eine Corona-Maßnahme. Nach ein wenig Smalltalk mit meiner Anwältin bittet uns der Anwalt Platz zu nehmen und legt auch schon direkt los. Es läuft alles exakt so ab, wie meine Anwältin zuvor erklärt hat und in fünfeinhalb Minuten sind wir geschieden. Das war es. Er schließt mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen beiden alles Gute für die Zukunft, Sie sind ja noch so jung. Bleiben Sie einander gewogen." Bei seinem Schlusssatz steigen mir die Tränen in die Augen und ich möchte nur raus aus diesem Raum. Während er noch etwas mit meiner Anwältion redet signalisiere ich ihr, dass ich rausgehe und verlasse ohne ein weiteres Wort den Gerichtsraum, direkt in die Arme von Nadine. Die Tränen fließen direkt in die Maske und ich schaffe es kaum mich zu fangen, bis meine Anwältin hinter mir erscheint und noch ein paar finale Worte an mich und Jonas richten möchte. „Nur in aller Kürze: Die nächsten Schritte sehen nun so aus, dass Sie vom Gericht eine Scheidungsurkunde erhalten und von mir eine abschließende Rechnung, sowohl für mein Mandat, als auch über die verbleibenden Gerichtskosten. Habe ich das richtig in Erinnerung, dass Sie die Kosten jeweils zur Hälfte tragen?" Ich nicke stumm, Jonas sagt „ja." „Alles klar. Dann bleibt mir nun nichts anders zu tun, als Ihnen alles Gute zu wünschen." Ich verabschiede mich von ihr und verlasse das Gericht eingehakt bei Nadine. Vor dem Gebäude hadere ich mit mir, ob ich noch mit Jonas sprechen soll. Denn eigentlich gibt es nichts mehr zu sagen. Ich sehe ihn ein paar Meter hinter Nadine stehen. „Möchtest du noch mit ihm sprechen oder wollen wir direkt fahren?" fragt sie. „Ich denke, heute wird das letzte Mal sein, dass ich ihn sehe. Gib mir fünf Minuten, ok? Ich komme dann zum Auto." Nadine nickt und geht. Jonas schaut mich an und kommt ein paar Schritte auf mich zu. Er sieht nicht gut aus. Er ist blass und hat tiefe Augenringe. „Du siehst nicht gut aus", setze ich härter an, als ich wollte. „Entschuldige, das war so nicht gemeint", ergänze ich. „Ist gerade sehr stressig an der Arbeit und ich schlafe schon länger nicht mehr sonderlich gut. Ich weiß auch gar nicht, was ich sagen oder wie ich mich verhalten soll." „Ist auch meine erste Scheidung und für mich mindestens genauso seltsam", antworte ich und blicke auf meine Schuhe. „Es tut mir alles so unendlich leid, was ich dir angetan habe." „Ach Jonas, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Wir hätten niemals heiraten dürfen. Wir passen überhaupt nicht zueinander und haben uns gegenseitig unglücklich gemacht. Ich wünschte nur, wir hätten ein würdigeres Ende für unseren schönen Anfang gefunden", sage ich mit tränenerstickter Stimme. Auch Jonas fängt an zu weinen. „Ich hab das alles nicht gewollt. Musst du gleich wieder zurück an die Arbeit?", fragt er. „Blöderweise habe ich um 14 Uhr eine Deadline und fahre danach auch wieder zurück." „Hamburg?" „Ja, temporär. Ich mache die Kitaeingewöhnung mit Mats und ab September wohne ich in Oslo." Er lächelt durch die Tränen: „Wie schön, dass du deinen Traum wahrmachst." „Musst du auch wieder ins Büro?, frage ich. „Nee, ich habe mir heute einen Urlaubstag genommen. Darf ich dich zum Abschied noch einmal umarmen?" Ich nicke nur und mache schüchtern einen Schritt auf ihn zu. Wir nehmen uns fest in den Arm. „Jonas, pass gut auf dich auf. Ich wünsche dir nur das Beste für deine Zukunft." Wir lösen die Umarmung und verabschieden uns.
Das war es also. Jetzt bin ich geschieden. Single.
Als ich nachts nach Hamburg zurückfahre, sind gerade die Perseiden. Ich bleibe eine Weile vor dem Haus meiner Schwester stehen und starre in den Nachthimmel. Da rauscht auch schon die schönste Sternschnuppe, die ich jemals gesehen habe über den Himmel mit ellenlangem Schweif. Ich schließe die Augen und wünsche mir was. Ich öffne die Augen, greife zu meinem Handy und schreibe Jonas eine letzte Nachricht: Heute Nacht ist Sternschnuppenregen. Zeit dir was zu wünschen.
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Ein 'Für immer' gibt es nicht
Não FicçãoDieses ungute Gefühl: Als ich in meine Straße einbiege, bemerke ich ein Grummeln im Bauch, ein unangenehmes Ziehen. Ich will eigentlich wieder umkehren, zurück in Milenas Wohnung und mich verkriechen, mich vor dem notwendigen Gespräch verstecken, ab...