Auftrieb

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Die Flucht nach Abisko

Endlich ist mein Abreisetag gekommen: Acht Tage in Abisko bei der Fjällräven Classic, einem mehrtägigen Wander-Event mit tausenden Teilnehmern. Ich hatte mich Ende des vergangenen Jahres, als ich Silvester ohne Jonas in Kongsberg in der Nähe von Oslo verbrachte, als Helferin beworben. Im April kam die Zusage, dass ich dabei sein werde.

Ich freu mich eigentlich auf die Zeit nördlich des Polarkreises mitten im Nirgendwo. Meine Stimmung bewegt sich dennoch irgendwo zwischen Vorfreude, Angst, Unbehagen und einem dicken Fuck It. Vorfreude, weil ich endlich aus Berlin und aus dieser Wohnung herauskomme. Jonas weiß nichts von meiner Reise beziehungsweise erinnert sich nicht mehr an meinen Trip. Angst, dass ich zurückkehre in eine leere Wohnung, dass Jonas in meiner Abwesenheit auszieht. Unbehagen, weil ich weiß, dass die Teamsprache vor Ort Schwedisch ist und ich seit vier Jahren kein Schwedisch mehr gesprochen habe. Was, wenn ich der Grund bin, warum Englisch gesprochen werden muss oder ich Arbeitsaufträge nicht kapiere? Was wenn ich als Nicht-Muttersprachlerin ein Störfaktor werde? Und das Fuck it: Was hab ich denn noch zu verlieren?

Am Morgen des 9. August geht mein Flug von Berlin nach Oslo und von dort weiter nach Narvik. Von Narvik wiederum werde ich den Bus nach Abisko nehmen. Mit einem rumorenden Bauch und zittrigen Knien fahre ich mit der S-Bahn zum Flughafen Schönefeld, gehe durch den Sicherheitscheck, boarde den Flug und atme gefühlt erst bei der Landung in Oslo wieder aus. Berlin liegt nun meilenweit hinter mir, dass ich mich leichter fühle als alle Tage zuvor. Die atemberaubende Aussicht aus dem Flugzeug, als wir von Oslo nach Narvik über die Lofoten fliegen, lässt mich die letzten Wochen und Monate vollends vergessen. Die nächsten Tage gelten der Natur, dem Camp und Zeit mit mir selbst.

In Narvik angekommen, bilde ich mir ein Halsschmerzen zu bekommen. Bitte nicht krank werden, sage ich mir. Bis mein Bus fährt habe ich noch etwas Zeit totzuschlagen und gehe ich das nahegelegene Shoppingcenter. Vor der Tür drehe ich mich kurz um und lasse ich den Blick schweifen über die Berge in der Ferne. Mein Gott, ist der Norden schön, denke ich. Im Shoppingcenter finde ich sofort die Apotheke und decke mich mit Schmerzmitteln und Vitamin-Produkten ein. Bloß nicht krank werden, ist die Devise.

Ich freue mich schon sehr auf die Strecke von Narvik nach Abisko: Nicht nur landschaftlich beeindruckend, sondern auch ein Stückchen Lebensgeschichte. Vor 13 Jahren habe ich mit Holger, als wir zusammen in Stockholm lebten, eine Reise mit dem Nachtzug gemacht. Von Stockholm nach Kiruna. Ein Tagesausflug führte uns von Kiruna nach Abisko und weiter nach Narvik. Es war eine herrlich unbeschwerte, entschleunigte Zeit. Wir konnten einfach zusammen sein. Gedankenverloren sitze ich am Busbahnhof von Narvik und denke an Holger. Fast hätte ich es verpasst in meinen ankommenden Bus zu steigen. Wäre da nicht der nette Busfahrer, der schlichtweg auf Verdachte Lichthupe gibt und mich aus meinem Tagtraum weckt. Ich steige in den Bus. Kein anderer Fahrgast, ich bin alleine und suche mit einen Platz in der Mitte des Busses. Wieder verliere ich mich in Gedanken und fange an Fotos von Holger und mir von damals auf Facebook anzuschauen. Fast vergesse ich wunderschöne vorbeiziehende Landschaft zu bewundern. Was war das doch für eine unbeschwerte Zeit mit Holger: Das erste Mal im Ausland zu leben mit meiner ersten großen Liebe, als alles noch möglich schien und das Leben ein einziges, riesiges Abenteuer voller Optionen war. Wann ist mir diese Sicht auf die Welt verloren gegangen? Denn ist es jetzt, mit zwei Uni-Abschlüssen und fast zehn Jahren Berufserfahrung wirklich schwerer geworden, das Leben als großen Spielplatz für Träume zu sehen? Eigentlich nicht. Die Qualifikationen sind gewachsen, viel Lebenserfahrung gewonnen, neue Sprachen gelernt, Selbstbewusstsein entwickelt. Warum erschien mir mein Leben in den vergangenen Jahre immer kleiner und kleiner, immer unbedeutender und eingeschränkter, wenn es nüchtern betrachtet doch das ganze Gegenteil ist? Ich öffne meinen Rucksack neben mir, ziehe mein Tagebuch heraus und fange an zu schreiben. Ich stelle mir die Fragen: Warum erscheint mir die Welt limitierter als zu Zeiten, in denen ich keinen Abschluss hatte? Warum fühle ich mich außerhalb Berlins sofort freier und beschwingter?

Ein 'Für immer' gibt es nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt