sechs

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Meine Gedanken scheinen sich zu überschlagen, als ich an das offene Fenster trete und meinen Blick über die Landschaft gleiten lasse; die Sterne am Nachthimmel und die großen Tannen direkt neben unserem Grundstück.

Wenn der Mond so hoch am Himmel steht scheint alles so friedlich. Selbst der Wind, der gerade in mein Zimmer weht und die hellgrüne Kerze auspustet, die neben mir auf dem Fensterbrett steht, hat gerade etwas beruhigendes an sich.

Ich seufze leise und stütze meinen Kopf auf meinen Händen ab.

Er erinnert mich ein bisschen an Gwendolyn. Die Schwarzhaarige ist wie ein Wirbelwind; unberechenbar und wild. Aber trotz allem hat sie auf mich immer so eine beruhigende Wirkung, vielleicht gerade weil sie eben so wild ist; das genaue Gegenteil von mir.

Seit zwei Wochen will sie einfach nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden. Und es sind Abende wie dieser, an denen der Gedanke an sie, an unsere gemeinsame Zeit, mich davon abhält endlich zur Ruhe zu kommen und meine Augen zu schließen.

Mein Blick wandert zu meinen Handy und dem orangen Zettel daneben. Oh wie gerne würde ich jetzt diese Nummer wählen, einfach nur um ihre Stimme zu hören. Ich spüre noch immer Gwendolyns Finger, die die meinen streiften, als sie mir den kleinen Zettel mit ihrer Handynummer gab.

Ob sie jetzt genau wie ich auf ihr Handy starrt und wartet, dass ich mich endlich bei ihr melde?

Entschlossen greife ich nach dem schwarzen Handy und wähle Gwens Nummer. Einen kurzen Moment schwebt mein Finger über dem grünen Symbol, aber letztendlich drücke ich dann doch auf den grünen Hörer und das altbekannte Tuten ist zu hören.

Ich darf das hier einfach nicht versauen. Noch nie war mir etwas so wichtig, wie diese Sache, die sich zwischen mir und Gwendolyn entwickelt. Ich weiß nicht einmal wie ich es beschreiben soll, dieses Gefühl, wenn ich bei ihr bin; kein Wort scheint passend, oder gut genug.

„Hallo?" Ihre Stimme klingt heiser. Und irgendwie anders.

„Wer ist da?"

„Ähm... Hi, Gwen." Ich hole tief Luft. „Ich bin es. Elisabeth."

Einen Moment lang ist es still und ich höre nur ihr schweres Atmen. „Geht's dir gut?", frage ich deshalb. Erneut werden die Bäume vor meinen Fenster von dem starken Wind durchgeschüttelt. „Ja natürlich. Alles bestens.", sagt sie schließlich, bevor ich höre wie sie leise flucht und ein schmerzhaftes Stöhnen von sich gibt; das genaue Gegenteil von alles bestens.

„Ich wollte dich wirklich nicht stören, also wenn du magst kann ich auch wieder..." Gwendolyn unterbricht mich sofort; ihre Stimme dabei so unfassbar schwach. „Nein bitte, Beth. Leg nicht auf."

Ich schlucke schwer. Ein ungutes Gefühl hat sich in meinem Bauch eingenistet.

„Erzähl mir einfach irgendetwas, ok?", sagt Gwendolyn schließlich. Im Hintergrund höre ich etwas leise Rascheln.

Mein Blick fällt schließlich auf das weiße Taschenbuch, das auf meinem Nachttisch liegt. Eine Sammlung kleiner Kurzgeschichten, die mir meine Oma einst zum Geburtstag schenkte. Der Buchrücken ist bereits zerfleddert und auch die Buchseiten sind mittlerweile von einem hellen braun, da ich so gut wie jeden Tag darin lese.

„Ich könnte dir etwas vorlesen.", schlage ich vor. „Also natürlich nur, wenn du magst."

Gwen lacht leise. „Das klingt gut."

Also lege ich das Telefon neben mir ab, schalte den Lautsprecher ein und beginne zu lesen. Vereinzelt höre ich wie Gwendolyn leise flucht oder ein unterdrücktes Schluchzen von sich gibt. Und obwohl ich sie am liebsten mit Fragen bombardieren würde, da mich die Sorge innerlich zerfrisst, tue ich es nicht und lese einfach nur Geschichte für Geschichte leise vor; gebe ihr den Freiraum, den sie verdient hat.

Denn ich weiß wie es ist, wenn man seine Dämonen vor dem jeweils anderen verbergen möchte.

Rot-Oranger RegenbogenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt