Kapitel 102.2

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Am Abend saßen die meisten der Mutanten, die in diesem Haus lebten, gemeinsam im großen Wohnzimmer. Zwängten sich auf die drei Sofas, setzten sich auf den Boden oder zogen ein paar der Küchenstühle mit dazu. Es waren mehr Mutanten, als ich in Erinnerung hatte. Einige von ihnen kannte ich zumindest vom Sehen her, mit manchen hatte ich immerhin schon einige Worte gewechselt und doch waren auch welche dabei, die ich nun zum ersten Mal sah.

Es wirkte beinahe schon wie eine große Familie oder eine freundschaftliche große Wohngemeinschaft, so wie sie alle zusammen vor dem Fernseher saßen und gebannt auf die Nachrichten warteten. Ich erblickte Sanya, die in der Nähe von Samuel neben einer fremden Mutantin saß, wie auch einige andere bereits bekannte Gesichter.

Audra, Kieran und ich saßen beieinander auf dem Sofa, das ganz links stand. Dabei fiel mir auf, wie Siebenundvierzig Kieran immer wieder verstohlene Blicke zuwarf. Was die beiden miteinander besprochen hatten, hätte ich nur zu gern gewusst, doch da ich wusste, dass es mich nicht anging, fragte ich auch gar nicht nach. Und selbst wenn: Kieran würde mir nur antworten, wenn er selbst es wollte.

Als Siebenundvierzig bemerkte, dass ich sie beim Starren erwischt hatte, grinste sie mir amüsiert zu und grüßte mich mit einem Nicken. Kopfschüttelnd lächelte ich und erwiderte ihr Nicken.

»Uh, gleich ist es soweit!« Das kam von Jade, der zierlichen Mutantin, die ich auf etwa fünfzehn Jahre schätzte. Aufgeregt wie ein kleines Kind, konnte das sonst so griesgrämige Mädchen nicht still sitzen.

»Psst!«, kam es aus einer anderen Ecke, doch an Jades Vorfreude konnte das nichts ändern. Sie ignorierte ihren genervten Kameraden einfach und rutschte weiterhin unruhig auf ihrem Platz hin und her. Der Rest schaute gebannt und bewegungslos auf den Fernseher, als würden auch nur das kleinste Geräusch und die kleinste Zuckung dazu führen, dass der Bildschirm schwarz und stumm wurde.

Wenn die Menschen sie doch jetzt sehen könnten. Würden sie uns dann noch Monster nennen? Diese kindliche Vorfreude, diese spannungsgeladene Nervosität, das scheue Lächeln und der hoffnungsvolle Blick. Was war menschlicher, als dieses Zusammensein? Vielleicht brauchte es gar keine Reden auf den Straßen, mit denen Samuel und die anderen die Menschen überzeugen wollten. Vielleicht genügte es, die Menschen hieran, an etwas Alltäglichem teilhaben zu lassen, um ihnen zu zeigen, dass wir doch gar nicht so anders waren.

Samuel, der meinen Blick bemerkte, wirkte unschlüssig. Irgendwie hatte er verstanden, was gerade in mir vorging, doch er war zwiegespalten. Konnte er verantworten, dass die Öffentlichkeit die Gesichter dieser Mutanten erblicken konnten und sofort wussten, dass es sich bei diesen Leuten um Mutanten handelte? Einige von uns sahen so menschlich aus, dass sie sich, sollte alles schief laufen, als Menschen ausgeben und so normal wie nur möglich leben könnten. Diese Option, dieser Schutz, würde ihnen genommen werden, sollten wir alle unsere Gesichter offenbaren.

Plötzlich ertönte ein Gong, gefolgt von einer männlichen Stimme: »Und hier kommen die Nachrichten.« Schlagartig hielten die meisten die Luft an und starrte den Nachrichtensprecher, der in einen dunklen Anzug gekleidet war, gebannt an. Ernst blickte er in die Kamera. »Heute mit diesen Themen: Verschärfung des Konflikts zwischen Großbritannien und Frankreich.« Im Hintergrund wurde das Lager der Mutanten auf französischem Boden gezeigt. »Spanien versucht zu vermitteln.« Eine kurze Aufnahme von der Premierministerin Gonzales. »Mutanten-Propaganda.« Jetzt wurden bloß Kommentare im Netz gezeigt, nicht aber die Flugblätter, auf die sie sich bezogen.

»Laut Frankreichs Regierungschef Lefebre wurden mehrere tausend Soldaten in den vergangenen Jahren speziell für die Jagd und das Töten von Mutanten ausgebildet.« Mit ernster und lauter Stimme sprach Lefebre in schnellem Französisch. Dabei machte er einen entschlossenen Eindruck. Der Nachrichtensprecher begann weiter zusammenzufassen. »Er stellt ein Ultimatum. Wenn bis in vier Wochen die Mutantensoldaten nicht aus Frankreich abgezogen worden sind und ihre Angriffe nicht einstellen, gibt er den bereits in Großbritannien platzierten Soldaten, die bisher unerkannt ihr Leben führen, den Befehl, so viele Mutanten zu töten, wie möglich.«

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt