Kapitel 36

4.3K 378 15
                                    

Kapitel 36

Liam hatte ich den gesamten Tag über nicht von dem Jäger erzählt, der unser Haus beobachtet hatte. Wahrscheinlich war er einer der Jäger, die mit Brenda unterwegs waren und war misstrauisch geworden, da sie in letzter Zeit wohl ein wenig verträumt war oder wie auch immer man es nennen wollte. Da war es nur natürlich, dass er jetzt unser Haus beobachtete. Außerdem, was sollten wir schon dagegen unternehmen? Genau. Überhaupt nichts. Weil wir es auch überhaupt nicht konnten. Weshalb also sollte ich es Liam erzählen? Es würde ihn nur unnötig beunruhigen.

Liam weckte mich bereits früh am Morgen. Dadurch, dass er mich ein wenig hin und her schüttelte, öffnete ich meine Augen. „Was ist?", grummelte ich kaum verständlich und schloss wieder meine Augen. Ich fühlte mich noch ein wenig benommen und müde. Meine Augenlider waren schwer wie Blei.

„Freya.", flüsterte Liam leise und allein deswegen zog er meine Aufmerksamkeit auf sich. Weshalb flüsterte Liam? Er hatte keinen Grund so leise zu sein, es sei denn er wollte, dass es weder Audra, noch Aldric mitbekamen. Sofort war ich hellwach und setzte mich so urplötzlich in meinem Bett auf, weswegen Liam erschrocken zurückzuckte. „Was hast du vor?", fragte ich aufmerksam und betrachtete ihn. Liam war schon fertig angezogen und ich sah, dass er mir ein Glas Wasser und ein Brötchen auf den Nachttisch gelegt hatte. Er wollte definitiv nicht, dass Audra und Aldric etwas mitbekamen. Was auch immer er vorhatte. Liam legte seinen Zeigefinger an seine Lippen. „Psst.", machte er. Er deutete mit einem Kopfnicken nach unten. Ja, klar. Audra und Aldric. Ich hatte schon mitbekommen, dass die beiden nichts mitbekommen sollten. „Wir gehen jetzt nach nebenan. Ich dachte mir, wenn wir früh morgens gehen, schlafen sie vielleicht noch.", flüsterte er und ging auf meinen Kleiderschrank zu. Ganz selbstverständlich öffnete er ihn und kramte in meinen Sachen. Ich konnte ihn nur anstarren. Liam legte mir Kleidungsstücke heraus und legte sie mir auf mein Bett. „Jetzt mach schnell!", befahl er leise und deutete auf das Badezimmer. Ich runzelte über sein Verhalten meine Stirn und blickte zu meinem Wecker, welcher sich wie mein Frühstück auf dem Nachttisch befand. 4 Uhr 49. Fassungslos starrte ich von meinem Wecker zu Liam. „Wir haben noch nicht einmal fünf Uhr!", zischte ich so leise wie möglich. Grinsend zuckte er mit seinen Schultern und deutete wieder aufs Bad. Dieses mal mit Nachdruck. „Ist ja schon gut!", brummte ich und verließ widerwillig mein Bett. Ich griff nach meiner Kleidung und schlurfte ins Badezimmer. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich mich leise fertig gemacht und setzte mich nun wieder auf mein Bett, trank mit einem Zug das Glas mit Wasser aus und griff nach dem Brötchen, das Liam schnell mit einer Scheibe Schinken belegt hatte. Ich hatte keine Zeit mein Essen zu genießen, denn Liam drängte mich schneller zu machen. Allein deswegen sank meine Laune ein wenig. Ich mochte es überhaupt nicht, gehetzt zu werden. Und früh aufstehen übrigens auch nicht. Mein Wecker zeigte mir an, dass wir eine Minute vor fünf Uhr am Morgen hatten.

„Jetzt komm!", sagte Liam und achtete darauf, nicht zu laut zu sein. Er stand bereits an meiner Tür und öffnete sie. Draußen auf dem Flur war es dunkel.

„Jetzt mach mal langsam, Liam. Die Severos wachen wohl kaum um fünf Uhr auf.", knurrte ich sichtlich genervt. Dennoch folgte ich ihm widerstandslos. Wir hatten keine Probleme uns in der Dunkelheit zurecht zu finden. Und auch als wir auf der Treppe waren, machten wir weder ein Geräusch, noch stolperten wir. Als wir an Audras und Aldrics Zimmertür vorbei schlichen achteten wir ganz besonders darauf, keinen Laut von uns zu geben. Auch die nächste Treppe meisterten wir lautlos. Unten im Flur stoppte Liam so plötzlich, dass ich beinahe in ihn hinein gelaufen wäre.

„Was soll das denn? Pass doch auf, oder warne mich wenigstens, wenn du einfach stehen bleibst!", giftete ich und es fiel mir schwer leise zu bleiben, dennoch war ich nicht so laut, dass man es bis oben hören konnte. Liam sah mich entschuldigend an. „Es tut mir leid, dass du so schlecht gelaunt bist und so, aber denk daran: Ich tue das immerhin für dich, Frey!", sagte er und ernst sah er mich an. „Ich könnte dich auch einfach alleine nebenan einbrechen lassen. Also bitte reiß dich zusammen!" Nach seinen Worten drehte er sich um und öffnete die Tür. Ich sah ein wenig zerknirscht zu Boden. Er hatte recht. Es war nicht seine Pflicht mit mit mit zu kommen, ebenso wenig wie es seine Pflicht war, Brenda darum zu bitten, mir zu helfen. „Entschuldigung.", murmelte ich leise und hob ein wenig meinen Blick. Gerade so, dass ich noch sehen konnte, wie sich auf Liams Lippen ein kleines Lächeln bildete. Immerhin war er nicht sauer auf mich und war nicht nachtragend. Ich wusste, dass es für ihn genauso gefährlich war, wie für mich. Würden wir erwischt werden würden wir mehr als nur Ärger bekommen. Und das würde ganz und gar nicht gut enden.

Ich folgte Liam hinaus und er schloss vorsichtig die Tür hinter mir. „Hast du einen Schlüssel dabei?", fragte ich, als mir einfiel, dass wir ansonsten nicht unbemerkt wieder herein kommen würden. Zur Antwort hielt Liam einen silbernen Schlüssel hoch, den er anschließend wieder in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Um uns herum war alles still. Nur hier und da war der ein oder andere Vogel zu hören, der sein Lied sang. Es war noch recht dunkel und die Luft um uns herum war noch kühl, im Gegensatz dazu, wie es heute Mittag sein würde. Es wäre entspannend und friedlich gewesen, wären wir beide nicht so nervös gewesen und hätten nur unser beider Vorhaben im Kopf gehabt. Ich sah mich um. In keinem der Fenster brannte Licht. Überall waren entweder die Vorhänge vorgezogen oder die Rollläden unten. Das einzige Licht, das die stille Straße vor uns erhellte waren ein paar Straßenlaternen.

„Siehst du? Sie schlafen noch.", sagte Liam, als er zu dem Haus der Severos sah. Ich folgte seinem Blick. Das Haus der Severos war groß und die Fassade war mit weißer Farbe gestrichen worden. Das Grundstück vor dem Haus bestand anders als bei Audra und Aldric hauptsächlich aus einer Wiese, durch die sich ein schmaler Weg zur Haustür schlängelte. Ganz vorne befand sich ein silberner hoher Zaun, der das Grundstück von dem Gehweg trennte und der das Haus vollkommen umrandete.

„Jetzt fehlen bloß noch die Sicherheitskameras.", murmelte ich gedankenverloren. Liam nickte bloß. In dem Zaun befand sich eine Tür, die natürlich wie zu Erwarten verschlossen war.

„Und bleibt keine andere Wahl, als darüber zu klettern.", stellte Liam fest und ging auf den Zaun zu. Ich folgte ihm, während ich das Haus nicht aus den Augen ließ. Doch es lag weiterhin schweigend vor uns. Vor dem Zaun blieben wir stehen und blickten hinauf. Ich schätzte ihn ungefähr zwei Meter hoch ein und dennoch kam mir das Grundstück der Severos wie ein Hochsicherheitsgefängnis vor. Sicher, die Severos waren reiche Leute, doch wirklich niemand würde dort freiwillig einbrechen wollen. Jeder, der wusste wie die Severos waren, würde es sein lassen. Von ihnen erwischt zu werden wäre alles andere als gemütlich. Doch ich musste dort hinein. Wenn ich meine Fähigkeiten wieder vollkommen unter Kontrolle haben wollte gäbe es keinen anderen Weg als diesen.

„Komm.", sagte Liam. Ich bemerkte seine Nervosität, die sich in seine Stimme schlich. „Lass es uns hinter uns bringen!" Und mit diesen Worten packte er die Stäbe des Zauns und begann sich hoch zu ziehen.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt