Kapitel 61

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Kapitel 61

Am nächsten Morgen verhielten sich die Jäger alle merkwürdig. Sie waren ziemlich still und Lucius wirkte so, als würde ihn irgendetwas bedrücken. Doch fragen konnte ich natürlich nicht. Er würde mich doch sowieso nur abweisen. Gestern, als Lucius, James und Brenda mit dem Reagenzglas zurück kamen, nachdem sie für ein paar Stunden verschwunden waren, hätte ich es James am liebsten aus der Hand geschlagen. Der sollte das Zeug nicht anfassen! Liam, Kieran und mir war ziemlich langweilig gewesen, da nur Levi bei uns geblieben ist, der aber eigentlich keinen Ton gesagt hat.

Schweigend saßen Lucius, James, Mikéle und Jo beieinander. Ihre Blicke huschten immer mal wieder zu mir, doch ich konnte sie nicht deuten. Immer wenn sie bemerkte, dass ich sie ansah, sahen sie alle schnell woanders hin. Was war denn mit denen los? Normal war das nicht. Kieran beugte sich zu mir herüber. „Die gucken dich so komisch an.", flüsterte er mir zu.

„Ja, ich weiß.", flüsterte ich zurück. Liam, der das mitbekommen hatte, starrte nun zu den vier Jägern. Irritiert, weil James angestarrt wurde, starrte James jetzt zu Liam. Ich zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Veranstalteten die beiden jetzt etwa einen Wettbewerb? Wer konnte den anderen am längsten anstarren? Lucius schien das genauso merkwürdig zu finden wie ich, denn er stieß James mit seinem Ellenbogen einmal in die Rippen. James keuchte erschrocken auf und warf meinem Bruder einen empörten Blick zu. Lucius zuckte nur mit seinen Schultern und James schnaubte. Erst dann bemerkten die beiden, dass wir alle sie beobachteten. Lucius zog bloß fragend eine Augenbraue hoch und wandte sich dann wieder ab.

„Frey.", flüsterte Liam und tippte mich an.

„Hm?", machte und sah ihm in sein Gesicht. Liam wirkte unruhig. Das machte mich stutzig. War irgendetwas vorgefallen? Plötzlich erhoben sich alle Jäger und entfernten sich einige Meter von uns. Was sollte das denn jetzt werden? Skeptisch beobachtete ich sie. Jo zog ein kleines Gerät aus ihrer Hosentasche. Es war kaum mehr als ein Display. Sie tippte darauf herum und sie alle setzten sich in einen Kreis. Ich konnte sehen wie sich ihre Lippen bewegten. Sie schienen zu sprechen. Doch verstehen konnte ich kein einziges Wort. Liam schnaubte. „Was soll das denn?" Ja, genau. Was sollte das? Lucius gestikulierte wild und schien sich in Rage zu reden. Blöder Weise verstand ich kein Wort. Wie viele von diesen merkwürdigen Geräten hatten die überhaupt, mit denen sie unsere Sinne und Fähigkeiten unterdrücken konnten? „Ach, lass sie doch.", meinte ich, starrte die Jäger jedoch weiterhin an und hoffte irgendetwas verstehen zu können, auch wenn ich wusste, dass das nicht möglich war. Lucius sprang abrupt auf und lief aufgewühlt hin und her. Jedoch entfernte er sich nicht weit genug von den anderen, sodass ich ihn immer noch nicht verstehen konnte. Er schien irgendwie unkonzentriert. Stolperte mehr als nur einmal über seine eigenen Füße. Was war denn bei ihm bitte los? Auch die anderen verhielten sich merkwürdig. Lucius ließ sich wieder frustriert zu den anderen auf den Boden fallen. Ich wandte mich wieder Liam zu. „Du wolltest etwas sagen?", fragte ich. Liam nickte. Sein Blick lag in weiter Ferne. „Audra ist im Gefängnis.", begann er. „Wir müssen sie da herausholen. Und sie weiß ja noch nicht einmal, dass ..." Liam stockte. Wir beide wussten, was er hatte sagen wollen. Audra wusste noch nicht, dass Aldric tot war. Sie war bewusstlos gewesen, als er gestorben war. Schweigend sahen Liam und ich auf den Boden. Wie sollten wir das nur jemals Audra erklären? Ich wusste, dass sie uns nicht die Schuld an seinem Tod geben würde, doch ich fühlte mich schuldig. Ich hätte es verhindern können. Liam ebenso. Doch wir beide hatten nichts getan. Es war ein schreckliches Gefühl.

„Konzentrieren wir uns erst einmal darauf, Audra aus dem Gefängnis zu holen.", sagte Liam.

„Ach ja? Und wie sollen wir das anstellen?", mischte sich nun Kieran ein. „Wir können schlecht dort rein spazieren, die Türen aufbrechen und einfach mal so eine Gefangene mitnehmen. Wie hast du dir das denn vorgestellt?"

Liam seufzte. „Halt doch bitte einfach mal die Klappe. Außerdem habe ich nicht gesagt, dass es einfach wird." Er lehnte sich an die Wand. „Wir müssen zu aller erst einmal dorthin kommen, ohne entdeckt zu werden." Kieran sah zu den Jägern, die noch immer am reden waren. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie uns gehen lassen?" Er deutete auf mich. „Du glaubst doch nicht, dass sie sie gehen lassen?" Kieran lachte düster auf. „Sieht so aus, als müsstest du deinen Plan noch einmal überdenken. Immerhin können wir denen nicht einreden, dass es auch für sie wichtig ist, Mrs Harris zu befreien.", fuhr Kieran fort. „Außerdem hat Mrs Harris keinen Nutzen für die Jäger. Sie wäre genau wie wir nur eine weitere Klette." Leider hatte Kieran recht. Die Jäger würden uns nicht gehen lassen und wir könnten sie auch nicht davon überzeugen, dass es wichtig sei, Audra zu befreien. Und dann war da noch die Frage, ob ich einfach so gehen würde. Denn innerlich wusste ich, dass ich es nicht könnte. Einfach gehen. Dann hätte ich Lucius ein zweites mal verloren. Und ich wusste nicht, ob ich ihn wieder finden würde. Oder ob er mich dann noch dabei haben wollte. Nun ja, auch jetzt konnte man es nicht wirklich als „dabei haben wollen" bezeichnen. Ich wusste nicht, was Lucius davon abhielt uns nicht einfach zu töten. Was hatte ihn überhaupt dazu bewegt, uns mit zu nehmen? Auf einmal spürte ich die Blicke von Liam und Kieran auf mir. Liam lächelte mitfühlend. „Du kannst nicht einfach so weggehen, oder?", fragte er.

„Nein.", murmelte ich. „Aber ich wünschte, ich könnte es." Es würde jedenfalls vieles einfacher machen.

„Scheint so, als müssten wir die Jäger also überreden.", stellte Kieran fest. Er zupfte mit seinen Fingern an der Metallkette, die seine Handgelenke fesselte. Liam dagegen hatte verbittert seine Lippen aufeinander gepresst. Mir war schon aufgefallen, dass er seit wir hier waren ein wenig angespannt war. Und das lag nicht nur an seinen Erinnerungen an diesen Ort. Auch mein Eis, das hier scheinbar alles bedeckte, trug zu seiner Anspannung bei. Liam saß genau so, dass er möglichst wenig Kontakt mit dem Eis hatte. Für ihn war das wohl so ähnlich wie für mich das mit dem Feuer in unserem Haus. Dennoch hielt Liam es aus. Er hatte überhaupt keine andere Wahl. Und ich kam mir auf einmal schlecht vor. Es war mein Eis. Also konnte ich doch auch etwas dagegen tun. Oder? Ich zweifelte. Das Eis war schon so lange hier. So viele Jahre über. War ich wirklich stark genug um es schmelzen zu lassen? Und wenn ich es schmelzen ließ würde es zu Wasser werden. Vermutlich würde der ganze Boden ein kleiner See sein. Nein. Nein, das konnte ich nicht tun.

„Kannst du Lucius irgendwie beweisen, dass du Freya bist?", fragte mich Liam plötzlich. Überrascht sah ich ihn an. Wie kam er denn auf einmal darauf? Dachte er, Lucius würde uns dann eher helfen? „Nein. Du weißt doch genau, für was er mich hält.", sagte ich verbittert. „Wir müssen das irgendwie anders machen. Vielleicht sagen wir ihnen, dass im Gefängnis irgendetwas ist, was sie brauchen."

Kieran schnaubte. „Die kommen doch dahinter, dass das nur eine Lüge ist! So blöd sind die jetzt auch nicht." Er schüttelte seinen Kopf und blickte nachdenklich auf seine Füße. „Aber so schlecht ist die Idee auch nicht.", stellte Liam sich auf meine Seite. „Daraus könnte man irgendetwas Glaubhaftes machen. Und wenn die Jäger die Lüge geschluckt haben, fahren sie zum Gefängnis."

„Du vergisst, dass sie irgendeinen von ihnen zurück lassen, um auf uns aufzupassen.", warf ich ein. Liam nickte. „Natürlich. Aber es ist ja nicht so, dass wir mit einem nicht fertig werden.", meinte er.

Kieran seufzte. „Dir ist schon bewusst, dass wir alle zusammen an einer Kette hängen. Oder?" Demonstrativ hob Kieran seine gefesselten Hände hoch. „Und wir müssen uns nicht nur gegen die Jäger behaupten. Das Gefängnis wird bewacht."

„Wir brauchen unsere Hände nicht zum Kämpfen.", sagte ich. Kieran schnaubte. „Du vielleicht nicht.", sagte er. „Aber ich." Er funkelte mich wütend an. Überrascht stellte ich fest, dass er jetzt gar nicht mehr so selbstbewusst wirkte. Kieran brauchte wirklich seine Hände. Sonst würde er nicht mit uns in das Gefängnis gehen. Er brauchte das Gefühl sich verteidigen zu können. Zudem kam noch das Problem mit der Kette. Selbst wenn seine Hände frei gewesen wären hätten wir alle drei keine große Bewegungsfreiheit und könnten uns nicht ausreichend verteidigen. Irgendwie mussten wir die Kette loswerden. Nur wie? Ich konnte sie nicht vereisen und zersplittern lassen. Die Splitter würden sich in Liams und Kierans Haut bohren. Und Liam konnte die Kette nicht schmelzen lassen, da uns das flüssige Metall dann über die Haut laufen würde. Wie sollten wir es also anstellen?

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt