Kapitel 45
Liam schloss die Gartentür hinter mir. „Sht ...", murmelte er. „Alles ist gut." Nein! Nein, verdammt! War es nicht! Nun erlaubte ich es mir, zu schluchzen. Und noch einmal. Und wieder. Ich heulte wie ein Schlosshund und die Tränen liefen wie Wasserfälle über mein Gesicht. Liam schien ein wenig überfordert, doch er schaffte es, mich zu dem Sofa zu führen, auf das er mich setzte. „Lass alles raus.", murmelte er. „Lass alles raus." Immer wieder tauchte Lucius' Gesicht vor mir auf. Er glaubte, dass ich es nicht gesehen hatte. Doch ich hatte es. Ich hatte gesehen, dass Lucius weinte. „Was immer diese Jäger getan haben, du brauchst nur einen Ton zu sagen und ich reiße ihnen die Köpfe ab!", versprach Liam mir, doch anders als er erwartet hatte, beruhigte es mich nicht, sondern brachte mich nur dazu, noch stärker zu weinen. „Nein!", heulte ich. „Tu das nicht!" Das verwirrte Liam endgültig. Von meinem Geheul angelockt, hastete Audra ins Wohnzimmer. Aldric war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich befand der sich bereits auf der Arbeit. Entsetzt riss Audra die Augen auf, als sie mich sah. „Ach du lieber Himmel!", rief sie aus und stürzte auf mich zu. Sie riss Liam von mir weg und zog mich in eine feste Umarmung. „Was ist denn passiert?" Sie war mit der Situation überfordert. Noch nie hatte sie mich so gesehen. Noch nie hatte sie mich so zerstört gesehen. Und das war ich. Vollkommen zerstört. Von innen heraus. Audra sagte nichts. Sie strich mir einfach immer und immer wieder über den Rücken. Wie hatte das passieren können? Wie hatte Lucius ein Jäger werden können? Der kleine, schüchterne, liebe Lucius? Wie war es dazu gekommen? Und James? Nun gut, er war immer an Lucius Seite geblieben. Also auch dieses mal. Aber die Reyes-Geschwister? Das passte irgendwie nicht zusammen. Weshalb waren sie auch Jäger? Und weshalb hörten sie auf meinen Bruder? Es kam mir so vor, als hätte ich etwas Entscheidendes verpasst. Nun ja, so war es vermutlich auch. Ich atmete tief ein und aus. Zwang mich dazu, mich wieder zu beruhigen. Immerhin musste ich es irgendwie Liam und Audra erklären, wenn ich nicht wollte, dass Liam meinem Bruder und seinen Jägern die Köpfe abriss und Audra irgendetwas Unüberlegtes tat. Ich schluckte. Würde ich es überhaupt aussprechen können? Es war schrecklich.
„Frey?", fragte Liam langsam, vorsichtig. Meine Augen wanderte zu ihm. Dann holte ich einmal tief Luft. „Die Jäger ...", begann ich und überlegte, wie ich es am besten formulieren sollte. Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen. „Ich kenne – kannte – sie. Alle außer Brenda." Liam zog seine Augenbrauen zusammen. „Woher ...?", fragte er, bis er anscheinend verstand, was ich ihm versuchte klar zu machen. Seine Augen weiteten sich. „Nein.", murmelte er. „Sag mir, dass das nicht wahr ist." Ich senkte meinen Blick. „Mein Bruder.", flüsterte ich. „Er ist der Anführer. Mein Zwillingsbruder." Liam und Audra schwiegen. Und sie beide starrten mich aus großen Augen an.
„Aber wie ...?", fing Audra an, doch ich unterbrach sie, indem ich meine Hand hob. Audra war auf der Stelle still. Auf Audras Frage hatte ich keine Antwort. Noch nicht. Und ich wusste auch nicht, ob ich sie jemals bekommen würde. Oder ob ich die Antwort überhaupt wissen wollte.
Liam wirkte angespannt. „Wer waren die anderen?", wollte er wissen. Ich presste meine Lippen fest aufeinander. Doch dann erzählte ich ihm auch das. „James, der damalige beste Freund von Lucius und mir. Und Levi, Mikéle und Jo. Du weißt wer sie sind?" Liam nickte. „Ja, das hast du mir einmal erzählt." Plötzlich bemerkte ich, dass Audra die Tränen in den Augen standen. Fragend sah ich sie an. Sie winkte ab. „Es ist nichts. Es ist nur so unfair." Ja. Unfair. Das beschrieb die Situation auch. Aber was war schon fair? Wir waren Mutanten. Da gab es recht wenig, was fair war. Das mit Lucius war nur der Höhepunkt in Sachen „unfair".
„Was machen wir jetzt?", fragte Liam. „Mit den Jägern, meine ich. Was wollen wir tun? Oder tun wir gar nichts?" Ich spürte seinen fragenden Blick auf mir. „Wir tun gar nichts. Wie auch? Brenda weiß jetzt, was du bist. Es war alles umsonst.", murmelte ich deprimiert und stützte meinen Kopf in meinen Händen. „Sie wissen wer wir sind. Sie wissen was wir sind. Es war alles umsonst. Wir können gar nichts tun. Rein gar nichts!" Noch ehe ich mich versah, hatte Liam mich an meinen Schultern gepackt, blickte mir fest in meine Augen und schüttelte mich. „Sag das nicht!", knurrte er. „Das stimmt nicht! Es war nicht umsonst! Denk doch mal nach! Allein als wir das komische Gerät deaktiviert haben! War das etwa umsonst?" Er hatte aufgehört mich durch zu schütteln. Liam seufzte. „Frey, ich weiß, dass das im Moment total scheiße ist. Doch lass dich davon nicht aufhalten.", sagte er und stockte kurz. „Ich glaube, Lucius wird dir nichts tun. Auch wenn er es wollen würde, er kann es nicht. Weil er irgendwo in dir noch die Schwester erkennt, die er verloren hat. Was glaubst du, weswegen er so lange gezögert hat? Vor ihm brauchst du keine Angst zu haben." Ich sagte nichts. Kein Wort. Vielleicht. Vielleicht hatte Liam recht. Doch was sollten wir jetzt tun? Wir standen wieder am Anfang. Wir hatten keine Chance mehr, die Jäger auszuhorchen. Ich fühlte mich leer. Vollkommen leer. Wir würden nie wieder so nah an irgendwelche Jäger kommen. Geschweige denn so gut voran kommen. Es war vorbei. Da konnte Liam sagen, was auch immer er wollte. Es war so. Und wir konnten es nicht ändern. Lucius würde jetzt weiter ziehen. Um nur so viele Kilometer wie möglich zwischen uns zu bekommen. Ich stieß Liams Hand fort, die auf meiner Schulter ruhte und verschwand ohne einen Ton zu sagen aus dem Wohnzimmer. Liam rief mir hinterher, doch ich ignorierte es. Ich wollte im Moment nur alleine sein. Ich war froh, Liam zu haben und dass er für mich da war, aber jetzt brauchte ich erst einmal meine Ruhe. Die Treppe machte nicht ein Geräusch, als ich hinauf lief. In der ersten Etage gab es neben dem Schlafzimmer von Audra und Aldric ein kleines Zimmer, das wir als das zweite Wohnzimmer ansahen. Ich öffnete das Fenster und setzte mich auf die Fensterbank. Von hier aus konnte ich an dem Haus der Severos vorbei, in den Wald sehen, der sich hinter den Villen auf der gegenüber liegenden Seite verbarg. Gedankenverloren blickte ich auf den Wald. Irgendwo dort befanden sich die Zelte meines Bruders. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahr nahm. Ruckartig drehte sich mein Kopf dorthin um. Gegenüber in zwei Metern Entfernung befand sich eines der Fenster der Severos und genau dieses putzte gerade Kieran. Dieser schien mich nun auch bemerkt zu haben, denn er ließ das Putzzeug sinken und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Als ich nicht reagierte, stellte er das Putzzeug beiseite und öffnete das Fenster. Na super. So viel zum Thema „alleine sein".
„Was ist denn mit dir los?", fragte Kieran. „Du siehst gerade so ziemlich beschissen aus!" Ich verdrehte meine Augen. Nett. Sehr nett. Doch ich verbiss mir meinen Kommentar. Ich hatte im Moment andere Probleme, als einen unhöflichen Kieran. Er bemerkte wohl auch, dass mir nicht nach streiten war, denn er seufzte und setze sich auf die Fensterbank der Severos. Seine Beine baumelten locker hinunter und er beugte sich leicht vor und stützte sich auf seine Hände. „Willst du reden?", fragte er und klang zu meiner Überraschung besorgt. Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, aber danke."
„Kein Thema.", meinte Kieran, doch machte keine Anstalten, wieder im Haus zu verschwinden. Und seine Augen blieben auf mich gerichtet. Den würde ich wohl so schnell nicht dazu bringen, zu verschwinden. „Du siehst ziemlich fertig aus.", bemerkte er.
„Ach was?", brummte ich und wandte mich seufzend von dem Wald ab. Ich setzte mich so hin, dass ich Kieran ins Gesicht sehen konnte und nun baumelten auch meine Beine locker hinunter. Ein Grinsen erschien auf Kierans Lippen. „Na geht doch. Da ist sie wieder!" Er lachte leise. Ich zog nur eine Augenbraue hoch und sah ihn an. War das alles? Kieran hörte auf zu lachen und sah zu mir. „Willst du wirklich nicht reden?", bot Kieran an. „Ich bin ein guter Zuhörer." Wieso wollte er mit mir reden? Was sollte das werden? Kieran sah mich abwartend, aber geduldig, an. „Ich will nicht darüber reden.", sagte ich. Er zuckte mit seinen Schultern. „Dann eben nicht.", sagte er. „Aber solltest du mal jemanden zum Reden brauchen, du weißt ja, wo du mich findest." Er zwinkerte mir zu und verschwand wieder im Haus. Ich sah ihm verwirrt hinterher. Was sollte das denn jetzt? Aber eines hatte Kieran geschafft. Er hatte mich auf andere Gedanken gebracht.
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Freya Winter - Mutant
Science FictionMutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia sein, ehe das Experiment nach hinten losging. Sie sind schneller als normale Menschen, stärker und anders. Die perfekten (Nicht-)Menschen. Un...