Kapitel 93.4

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Ihnen allen war die Mutation anzusehen. Wenn auch bei allen nicht gleich ausgeprägt. Bei den meisten von ihnen sah man es bloß an den Augen und den Fingernägeln. Manche von ihnen hatten bestimmt auch spitze Zähne, doch noch hatte keiner von ihnen etwas gesagt, sodass ich diese nicht sehen konnte. Nur ein Junge und ein Mädchen stachen deutlich aus der Gruppe hervor.

Das Mädchen war vielleicht zwanzig Jahre alt. Und sie war blass. Sehr blass. Ihre Haut erschien weiß. Auch ihr Haar war weiß. Rechts und links standen große, spitz zulaufende Ohren von ihrem Kopf ab. Beide mit schneeweißem Fell überzogen. Es waren nicht die Ohren eines Menschen. Ihre Augen waren ebenfalls nicht menschlich. Sie waren minimal größer und in einer Mischung aus braun und einem dunklen Gelb. Zudem war ihre Nase schmal und spitz. Generell wirkte sie zierlich und flink.

Der Junge sah aus wie achtzehn. Und er wirkte noch bizarrer als das Mädchen. Seine Haut hatte die Farbe von Cappuccino und sein Haar war grau-braun. Außerdem trug er ein Tanktop. Aber es hatte einen Grund, dass er ein Tanktop trug. Und dieser war nicht die Jahreszeit. Denn er hatte keine Arme. Nicht wirklich. Stattdessen hatte er Flügel. Schwarze Fledermausflügel, die mit unnatürlich dünnen und merkwürdig geformten Armen verbunden war. Seine Daumen waren kurz und er trug jeweils eine einzige Kralle. Die restlichen vier Finger waren bei ihm stark verlängert. Im Gegensatz zu dem Mädchen waren seine Augen klein. Und schwarz.

Lucius neben mir erstarrte. Ohne Vorwarnung packte er meinen Kopf und drückte mich unsanft hinunter. „Hey, was soll das?", rief ich verärgert auf und wollte Lucius' Hand wegschlagen, doch etwas an seinem Blick hinderte mich daran. „Was ist los?", fragte ich. Dieses Mal ruhiger.

„Sie dürfen dich nicht sehen.", antwortete Lucius. Seine Stimme klang merkwürdig belegt. „Das sind Jäger."

Beinahe  schon wollte ich spöttisch auflachen. Jäger? Das waren ganzoffensichtlich Mutanten! Wenn es mich auch wunderte, dass sie alle zu sechst in einem Auto herumfuhren und wie selbstverständlich auf dem Rastplatz standen, als würde er ihnen gehören. Das war tatsächlich merkwürdig.

„Wie kann das sein?", wollte ich wissen.

„Sie sind einer der Spezialtrupps der Regierung. Früher waren sie einmal Soldaten an der Front. Jetzt erfüllen sie die Aufträge, die sie von der Regierung erhalten.", erzählte mein Bruder. „Das heißt, dass sie Jagd auf Mutanten machen. Zumindest auf von der Regierung ausgewählte Mutanten." Ich schluckte. Mutanten, die Mutanten jagten? Wie konnte es so etwas geben? Ich hatte Mutanten gesehen, die Jagd auf Jäger machten. Aber niemals Mutanten, die Ihresgleichen jagten. Und dass es so etwas geben sollte, ließ mich schaudern. Wir mussten zusammenhalten. Wir hatten es ohnehin schon schwer genug. Mussten wir uns jetzt auch noch gegen unsere eigene Art behaupten?

„Woher weißt du das?", sprach ich die Frage aus, die mir auf einmal in den Sinn kam. Vorsichtig spähte ich über das Armaturenbrett. Einer der Mutanten prüfte gerade eine Waffe. Eine Pistole. Auch das hatte ich noch nie gesehen. Mutanten nutzten normalerweise keine Waffen. Sie selbst waren die Waffe.

„Einmal sind wir ihnen begegnet. Sie hatten das selbe Ziel wie wir. Darum mussten wir uns zurückziehen und hoffen, dass sie uns nicht bemerkt hatten. Sonst hätten sie uns der Regierung ausgeliefert.", erklärte mein Bruder düster. Gemeinsam beobachteten wir die Mutanten. Bis mir auf einmal der Vater der Familie auffiel. Die Mutter und die beiden Kinder hatten die Mutanten beinahe erreicht. Die Mutter hatte sie noch nicht bemerkt. Vermutlich glaubte sie, andere Reisende hätten gerade eben den schwarzen Wagen verlassen. Dafür aber bemerkte der Vater sie. Wie erstarrt blieb er stehen. Das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Er war so weiß wie das Auto hinter ihm. Entsetzen machte sich in seinem Gesicht breit. Ich konnte ihm ansehen, dass er zu seiner Familie rennen, sie warnen wollte. Doch das hätte nur die Aufmerksamkeit auf sie gezogen. Er war vollkommen machtlos.

Nun schweiften auch die Augen der Mutter beiläufig zu der Mutantengruppe. Kaum merklich weiteten sich ihre Augen. Anders als ihr Mann war sie nicht vor Entsetzen wie erstarrt. Betont ruhig blieb sie stehen und drehte sich zu ihren Kindern um, die sie fragend ansahen. „Ich habe was im Auto vergessen. Wir müssen noch einmal zurück, okay?", sagte sie mit gespielter Gelassenheit und lächelte ihre kleinen Kinder an. Ihr Lächeln zitterte. Sorge stand ihr in die blauen Augen geschrieben. Bestimmt nahm sie die Kinder an die Hand. Eines links, eines rechts. Mit zielstrebigen, aber nicht zu schnellen Schritten ging sie auf ihren Mann zu. Ihre Augen lagen fest auf ihm. Verzweiflung und Angst mischte sich in ihren Blick. Nicht für einen Wimpernschlag nahm sie die Augen von dem Grauhaarigen. Spätestens jetzt war ich mir sicher, dass er ein Mutant war. Das um seine Augen war keine Schminke. Seine Augenbrauen waren wirklich weiß und sein Haar grau. Er wusste nur, wie er sein Aussehen so anpasste, dass seine Mutation nicht weiter auffiel, obwohl er alles andere als unauffällig war. Und dafür bewunderte ich ihn.

Auf einmal wurde mir etwas klar. Entsetzen breitete sich in mir aus. Die Kinder der Frau! War der Mutant etwa ihr Vater? Was das für die Kinder zu bedeuten hatte, schob ich erst einmal beiseite. Waren die Mutanten wegen des Vaters und seinen Kindern hier? Keines von ihnen sah älter aus als drei Jahre. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was die Mutanten mit ihnen anstellen würden.

„Lucius!", stieß ich krächzend hervor. Fragend sah mein Bruder zu mir. Dann folgte er meinem Blick. Dieser lag nach wie vor auf den Kindern. Diese und die Frau hatten den Mann nun erreicht. Eines der Kinder löste sich von der Hand der Mutter und griff stattdessen lächelnd nach der Hand des Vaters. Besorgt griff die Frau, mit der nun frei gewordenen Hand, nach der Hand des Mannes. Leicht drückte sie sie, während sie beide ängstliche und gequälte Blicke austauschten. Beide wirkten, als wüssten sie, was sie nun erwartete. In diesem Moment war ich mir ziemlich sicher, dass die Mutanten wegen der Familie hier waren.

Das schien jetzt auch mein Bruder zu begreifen. „Verdammt!", murmelte er. Er sah zugleich entsetzt und ungläubig aus. Lange starrte er die Kinder an. Fassungslos. Er konnte es genauso wenig glauben, wie ich. Die beiden waren Kinder eines Mutanten. Und eines Menschen. Das hatte es noch nie gegeben. Wie auch?

Betont gemächlich schlenderte die Familie auf einen dunkelblauen Wagen zu. Dennoch war es zu spät. Die Mutanten waren bereits auf sie aufmerksam geworden. Das fuchsähnliche Mädchen nickte dem Fledermausjungen knapp zu. Alle sechs formierten sich und schritten mit ernsten Gesichtern auf die Familie zu.

„Wir müssen sie aufhalten!", sagte ich entsetzt. Doch zu meiner Überraschung schüttelte Lucius seinen Kopf. Fassungslos starrte ich ihn an. Wollte er die Familie etwa ihrem Schicksal überlassen?

Mein Bruder seufzte. „Ich würde ihnen gerne helfen, Freya. Glaub mir. Aber das geht nicht." sagte er entschieden. „Das da vorne sind sechs Elitesoldaten, die ein knallhartes Training durchlaufen und mit Bravour abgeschlossen haben. Gegen die kommen wir nicht an. Sogar du nicht." Als ich etwas erwidern wollte, fuhr Lucius fort. „Du bist stark. Das weiß ich. Aber du hattest kein Training. Und die da vorne sind ein eingespieltes Team, das sich seiner Stärken und Schwächen bewusst ist und damit umzugehen weiß. Außerdem kennt jeder von ihnen seine Kräfte und die der anderen in und auswendig."

„Wir können doch nicht einfach wegsehen und tun, als sei nichts gewesen!", meinte ich mit Nachdruck. Gequält sah mein Bruder mich an.

„Das sind Kampfmaschinen, Freya. Bestien. Ohne jedes Gewissen."; sagte er. „Sie konzentrieren sich allein auf ihre Aufgabe. Du kannst sie weder besiegen, noch an ihr Gewissen oder ihre Gefühle appellieren. Von diesen haben sie sich nämlich bereits vor langer Zeit getrennt." Ich konnte nichts anderes, als ihn anzustarren. Sie hatten sich von ihre Gefühlen getrennt? Genau von so etwas hatte Kieran einmal erzählt.

Als hätte mein Bruder meine Gedanken gelesen, nickte er. „Ja. Es ist genau das, wovon Kieran erzählt hat. Diese Mutanten da vorne haben ihre Gefühle ausgeschaltet. Es sind Bestien. Als ihr Auftraggeber könntest du ihnen befehlen, diese kleinen Kinder auf die grausamste Weise zu foltern und zu verstümmeln. Und sie würden es ohne mit der Wimper zu zucken tun."

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt