Kapitel 95.4

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„Es tut mir so leid!", flüsterte er. „Es tut mir so wahnsinnig leid! Wenn ich doch nur mehr aufgepasst hätte ..." Er drückte mich so fest an sich, dass ich beinahe glaubte, er wolle mir die Rippen brechen. Die Schuldgefühle schienen ihn zu erdrücken. Traurig lächelnd erwiderte ich seine Umarmung.

„Es ist passiert. Belassen wir es einfach dabei.", murmelte ich. Er war ganz warm. So wie immer. Fest schüttelte Liam seinen Kopf.

„Hätte ich nicht so impulsiv gehandelt ... Und hätte ich auf Lucius gehört..." Ich bemerkte, wie schwer ihm vor allem die letzten Worte fielen. „Dann hätten wir einander gar nicht erst aus den Augen verloren. Dann hätten wir gemerkt, dass ihr beide uns nicht gefolgt seid. Es ist meine Schuld!" Der Vorwurf in seiner Stimme war nicht zu überhören. Verbittert presste er seine Lippen fest aufeinander.

Seufzend drückte ich ihn ein wenig fester an mich. Doch ich sagte nichts. Selbst wenn ich ihm die Schuld hätte ausreden wollen, wäre ich bei Liam bloß auf taube Ohren und Unverständnis gestoßen.

„Geh weg von ihr.", ertönte auf einmal ein bedrohliches Knurren. Irritiert ließ Liam mich los, trat aber keinen Schritt zurück. Er drehte sich bloß zu der Person um, der die Worte gehörten. Kieran hatte sich noch nicht vom Fleck gerührt. Doch sein stechender Blick war ausschließlich auf mich gerichtet. Seine Haltung war alles andere als friedlich. Jeder seiner Muskeln schien angespannt und erwirkte so, als würde er jeden Augenblick angreifen. Da war etwas in seinen Augen, das Unbehagen in mir auslöste. Doch davon würde ich mich nicht unterkriegen lassen.

„Was hast du für ein Problem?", schoss Liam wütend zurück. „Freya ist endlich zurückgekehrt und ist noch am Leben! Und du hast nichts besseres vor, als ihr gegenüber feindselig zu sein? Sag mal, hast du irgendwie einen schlechten Tag?"

„Hat er das nicht immer?", murmelte Jo leise.

Doch Kieran ging gar nicht erst auf die Worte ein. Er visierte weiterhin mich an. Dieser stechende Blick war ungeheuerlich. „Ach, ist sie das?", knurrte er. „Dann sag mir, warum sie ihre Kapuze nicht abnimmt und warum etwas an ihr ganz und gar nicht stimmt. Spürst du das nicht?" Entnervt schüttelte Liam seinen Kopf.

„Was ist mit dir los, Kieran? Wenn du ein Problem hast, dann sei leise oder verschwinde!", sagte er und es wurde merklich wärmer im Raum. Doch Liam hielt sich zurück. Meinetwegen. Die Luft war zum Zerreißen gespannt. Wütend stierte Liam Kieran an, der ihn jedoch gar nicht beachtete. Seine Augen lagen ausschließlich auf mir.

„Anscheinend spürst du es nicht. Aber ich.", sagte Kieran mit leiser Stimme, was allerdings nur noch bedrohlicher wirkte. „An ihr ist etwas anders. Etwas Fremdes. Wenn das Freya ist, dann soll sie ihre Kapuze abnehmen." Ich konnte nur ahnen, worauf er anspielte. Auch, wenn es mich wunderte, dass er es „spüren" konnte. War es die zusätzliche Mutation durch Doktor Clausen?

Ohne auf eine Reaktion zu warten, schoss Kieran urplötzlich vor und mit solch einer Geschwindigkeit, von der selbst ich überrascht war. Audra schrie erschrocken auf, während Liam versuchte, sich zwischen Kieran und mich zu stellen. Doch Kieran wischte Liam einfach zur Seite, als wäre er bloß ein lästiges Insekt. Innerhalb eines Wimpernschlages hielt er den Rand von meiner Kapuze mit seinen Fingern fest und riss sie mir vom Kopf.

Ein entsetztes Keuchen ertönte. Alle Blicke lagen unweigerlich auf mir. Finster blickten meine veränderten Schlangenaugen Kieran entgegen, der meinen Blick ohne jede Gefühlsregung erwiderte.

„Gab es vorhin einen Kampf?", wollte Jo wissen, die sofort aufsprang. „Sind da draußen noch -"

„Nein.", unterbrach ich sie unwirsch. „Es gab keinen Kampf."

„Aber warum siehst du dann so aus?", hakte Liam verwundert nach. Mein veränderter Blick traf ihn. Aufgrund der andersartigen Augen zuckte er doch tatsächlich zurück. Überraschenderweise machte mich das nicht traurig. Sondern zornig. Liam und ich kannten uns schon ziemlich lange. Wir waren zusammen aufgewachsen. Wir hatten beide bei Ambrosia das Gleiche durchgemacht. Er kannte sich genau wie ich mit Mutationen aus. Aber diese Reaktion ...

Mein eAugen loderten. Die intensiv orangenen Augäpfel mit den blutroten Sprenkeln und den senkrechten schwarzen Schlitzen, die meine Pupillen waren, machten es nicht besser. Eher im Gegenteil. Hinzu kamen noch die weißen Schuppen, die meine Haut für immer ersetzt hatten.

„Freya, was ist passiert?", hauchte Audra erschrocken. Ihre Stimme zitterte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass in ihren Augen die Tränen glitzerten. Hinter mir trat Lucius nervös von einem Bein auf das andere. Aber niemand bemerkte Lucius. Genau wie Harlan und seine Familie verbarg ihn immer noch die Dunkelheit des Flurs. Außerdem stand Audra genau im Türrahmen, womit die den Blick auf die fünf ohnehin größtenteils verbarg.

Liam starrte mich einfach nur an. Wortlos. Doch sein Gesicht sagte bereits alles. Und das tat erstaunlich weh. Bitter sah ich Kieran an, in dessen Mimik sich endlich irgendeine Regung zeigte. Zwar nur für den Augenblick eines Wimpernschlages, aber immerhin. Ich hatte sie mir nicht eingebildet. Und ich glaubte auch, zu wissen, um was es sich dabei handelte. Verständnis. Klares und schmerzhaftes Verständnis.

„Wer war das, Freya?", wollte Liam mit gesenkter Stimme wissen. Doch seine Stimme war fest und unnachgiebig. Ihm war anzusehen, dass er am liebsten losstürmen und den Verantwortlichen in Stücke reißen wollte.

Halb wandte ich mich ihm zu. „Keine Sorge. Der, der das getan hat, ist bereits tot." Meine Stimme klang eisig. Seine kalten Überreste waren nur noch mit Hammer und Meißel aus dem Eis zu kratzen. Als Liam ansetzte, noch etwas dazu zu sagen, unterbrach ich ihn, noch bevor er beginnen konnte. „Ich will darüber nicht reden." Der Klang meiner Stimme erstickte jeden aufkommenden Gedanken an Widerworte.

Wortlos ballte Liam seine Hände zu Fäusten. Seine Lippen waren bloß noch eine einzige weiße Linie in seinem Gesicht. Ohne noch irgendetwas zu sagen oder irgendwen von den Jägern zu grüßen, ging ich zum Sofa und ließ mich darauf nieder. Dabei entgingen mir nicht die Blicke der anderen.

Auch die Jäger sahen mich an. Ihre Mienen teilten sich in Entsetzen und Mitleid. Ebenso still wie ich setzte Kieran sich neben mich. Seine schweigende, aber seltsam verständnisvolle Nähe war mir ein Trost.

Erst jetzt bemerkten die anderen, dass ich gar nicht allein hergekommen war. Lucius war der Erste, der in ihr Blickfeld trat. Er wirkte verbittert und seine Hände hatten sich zu Fäusten zusammengeballt. Ich hatte ihn nicht verraten. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich das nicht jederzeit tun könnte. Das wusste er genauso wie ich. Aber das war es nicht, weshalb er so verbittert war. Es war schlicht und einfach das Wissen über das, was er mir angetan hatte. Seit der Flucht aus Clausens Labor war auch mir das nicht mehr so präsent gewesen wie jetzt, in diesem Moment.

„Lucius!", rief James positiv überrascht aus. „Du lebst auch noch!" Breit grinsend sprang er vom Sofa auf und schloss meinen Bruder in eine kameradschaftliche Umarmung, bei der er ihm heftig auf den Rücken klopfte. Lucius sagte nichts, sondern nickte nur einmal knapp. Es war, als hätte er plötzlich seine Zunge verschluckt.

Auch der Rest seiner Jäger wirkte erleichtert und freute sich, ihren Anführer wiederzusehen. Doch alle, bis auf James, hielten sich mit ihrer Freude etwas mehr zurück. Dennoch konnten sie sie nicht verbergen. Und das versuchten sie auch gar nicht erst. Levi nickte Lucius mit einem leichten Lächeln zu, während Mikéle und Jo zu ihm gingen und ihm grinsend auf die Schultern klopften. Nur Brenda hielt sich lieber im Hintergrund.

 „Ach, wir haben übrigens noch Besuch.", informierte Audra die anderen und nun traten auch Harlan, Michelle, Sophia und Felix vor. Beinahe augenblicklich lagen misstrauische und musternde Blicke auf der Familie. Kurz stellten sie alle sich noch einmal vor, als Sophia auch schon zusammen mit Felix auf das Sofa zu stapften, auf dem sie sich beide nebeneinander wie kleine Katzen einrollten und beinahe augenblicklich einschliefen. Die Kinder waren wirklich unglaublich müde.

Skeptisch betrachtete Kieran die Geschwister, die sich neben ihm auf dem freien Platz eingerollt hatten.


„Mutanten, die Mutanten jagen?", hakte Liam gerade fassungslos nach und Michelle nickte. Anscheinend hatte sie ihm bereits von dem Vorfall auf der Raststätte erzählt. Liams Blick verdunkelte sich. „Wie können sie das nur tun?", fragte er düster.

„Sie sind Soldaten.", meldete sich auf einmal Kieran mit ernster Stimme zu Wort. „Sie haben keine Gefühle mehr. Kein Gewissen. Nichts hält sie davon ab. Sie denken rein logisch und keine Emotionen trüben ihr Urteilsvermögen. Das einzige, das sie antreibt, ist der Schatten eines Wunsches oder eines Ziels aus ihrem – wenn ihr so wollt – vorherigen Leben. Sie sind bedingungslos loyal und gehorsam. Sie stellen keine unnötigen Fragen und verrichten ihre Aufgabe gewissenhaft. Bessere Soldaten werdet ihr nirgendwo finden." Kieran strahlte kalte Berechnung aus.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt