Kapitel 22
Liam kam ziemlich gereizt wieder zu Hause an. Aber was sollte man auch anderes erwarten, nachdem, was beredet wurde?
„Liam!", rief ich, als er wieder die Tür herein kam und tat so, als sei ich nie weg gewesen. Ich fiel ihm um den Hals. Das schien ihn wieder ein wenig zu besänftigen und er schloss mich ebenfalls in seine Arme.
„Du glaubst nicht, wie überzeugt sie von dem ist, was sie tut!", brummte er in mein Haar. Ich grinste nur. Oh doch, mein Lieber! Das wusste ich! Aber das wollte ich jetzt nicht sagen. Noch nicht. Stattdessen bat ich ihn, mir alles zu erzählen und das tat er auch. Dabei ließ er all seinen Frust raus und zog über Brendas Naivität her.
Er ließ sich in das Sofa sinken. „Du ahnst ja nicht, wie schnell die mir vertraut hat!", stöhnte er und schüttelte fassungslos seinen Kopf. Ich reichte ihm eines der Brote, die uns Audra auf den Tisch gestellt hatte. Ohne groß etwas zu sagen nahm er es an sich und biss hinein.
„Aber eins muss ich dir lassen.", Er öffnete seine Augen und sah mich an. „Es hat besser funktioniert, als ich es geglaubt hatte!" Sein Blick wurde finster. „Auch wenn mir das dennoch nicht gefällt."
Ich lächelte. „Liam, es muss niemandem von uns gefallen, es muss uns helfen." Liam knirschte mit den Zähnen und nickte. Er stimmte mir zu. Was blieb ihm auch anderes übrig? Wir wussten alle, dass wir keinen anderen Plan hatten. Und Brenda war dafür geradezu das perfekte Opfer. Doch was wäre, wenn sie irgendwann tatsächlich etwas für Liam empfinden würde? Und wir dann die große Bombe um die Wahrheit platzen ließen? Ach, was dachte ich da? Als ob es mich interessierte, was mit der Jägerin war! Sie war eine Jägerin und weiter nichts. Ihre gesamte Existenz beschränkte sich darauf, Mutanten wie uns zu finden und zu töten. Traurig, aber so war es nun einmal. Es war die Wahrheit. Jäger waren nichts anderes als Menschen, die alles aufgaben, um uns zu töten. Sogar ihr Leben, weil sie überzeugt von dem waren, was Ambrosia ihnen eingeredet hatte. Oder sie waren von ganz allein auf diese Gedanken gekommen. Was wusste ich schon, wie Jäger tickten?
Liam streckte sich und gähnte laut auf. Träge sah er zu mir. „Muss ich morgen noch einmal zu ihr?" Er fragte, obwohl er die Antwort darauf bereits kannte.
Ich lächelte. „Du fragst, doch du kennst die Antwort schon." Liam seufzte und ließ seinen Kopf auf der Sofalehne sinken. Es gefiel ihm nicht, doch mir auch nicht. Dennoch mussten wir es tun, da wir keinen anderen Plan hatten. Außerdem funktionierte dieser ja wunderbar.
„Was, wenn bei unserem nächsten Treffen auch die anderen Jäger dabei sind?", fragte Liam. „Was soll ich dann tun?"
Ja, darüber hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht. Doch viel tun konnte er nicht. Wir durften sie nicht bekämpfen. Selbst wenn sie Jäger von Ambrosia waren, gehörten sie noch immer zu den Menschen. „Du solltest so wenig wie möglich ungewöhnlich auffallen.", sagte ich. „Verhalte dich einfach so, wie es Menschen tun würden."
Liam zog eine Augenbraue skeptisch hoch. „Freya, dass ich ein Mensch war, ist lange her. Woher soll ich jetzt noch wissen, wie sich Menschen verhalten? Wir sind keine Menschen, Freya. Deshalb können wir uns gar nicht wie sie verhalten."
Ich presste meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Liam hatte recht. Natürlich hatte er das. Doch was blieb uns anderes übrig? „Ich weiß, Liam. Ich weiß das. Ich will einfach nicht, dass sie etwas bemerken und misstrauisch werden, bevor Phase B beginnen kann, okay?"
Liam seufzte. „Ist schon gut. Mir ist klar, wie du das gemeint hast. Aber sag mir, was ist Phase B?" Er hob seinen Kopf von der Lehne und seine roten Augen sahen aufmerksam in meine.
„Phase B.", begann ich. „Phase A ist es, das Vertrauen von Brenda und vielleicht auch das Vertrauen der anderen Jäger zu bekommen. Oder dass du die anderen Jäger zumindest so weit bekommst, dass sie dir nicht mehr misstrauen. Phase B ist es, genug Informationen zu sammeln, ehe Phase C beginnen kann." Ich machte eine kurze Pause, indem ich mir eines der belegten Brote nahm, das auf dem Teller lag, von denen Liam schon zwei gegessen hatte. „Phase C ist es, die Jäger von innen zu manipulieren. Das bedeutet: Ihre Waffen kampfunfähig zu machen und ihre gesamte Ausrüstung unschädlich zu machen." Ich konnte sehen, wie beeindruckt Liam war, aber auch, dass er Bedenken hatte, was ihm niemand verübeln konnte. „Ich habe Brenda nicht einmal bemerkt, als sie sich an mich heran geschlichen hatte. Sie hatte so eine Art Würfel, der immer wieder rot geblinkt hat." Ein leises Knurren erklang aus der Tiefe meiner Kehle als ich daran dachte. „Es hat meine Sinne unterdrückt. Und ich weiß nicht, was es sonst noch tut. Vielleicht unterdrückt es nicht nur unsere Sinne."
Liam runzelte die Stirn. „Willst du etwa sagen, dass dieses Gerät vielleicht auch unsere Fähigkeiten unterdrückt?"
Doch, genau das wollte ich sagen. „Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber wenn es unsere Sinne unterdrücken kann, kann es vielleicht auch unsere speziellen Fähigkeiten unterdrücken.", bestätigte ich meine Vermutung. „Und genau das müssen wir herausfinden."
Liam und ich sahen uns in die Augen. Es würde einiges auf uns zukommen. Und das wussten wir. Doch wir konnten nicht sagen, was uns auf diesen Gedanken brachte. Klar war nur, dass auf uns eine schwere Zeit zukommen würde, über die wir keine Kontrolle hatten. Das gute Leben, dass wir führten, würde schon bald sein Ende finden und wir beide wussten nicht, wann es so weit war und was wir tun würden. Wir würden abwarten müssen um uns über unsere jetzige Situation und die zukünftige Veränderung klar zu werden. Es würde nicht einfach werden, doch wann war es je einfach gewesen? So etwas wie „einfach" gab es in dem Leben von Mutanten nicht. Und würde es wohl auch nie geben, wenn sich die Einstellung und das Denken der Menschen nicht ändern würde. Selbst bei unserem Glück, bei Audra und Aldric zu leben, war es nicht einfach. Wir mussten immer befürchten, jeden Tag von Ambrosia entdeckt zu werden, was letzten Endes ja auch geschehen war. Also war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Jäger uns angreifen würden und bis Liams Identität auffliegen würde. Außerdem hatte Liam mich vor Brenda „93" genannt. Und bei ganz Ambrosia galt ich, Mutantin Nummer „93" als besonders gefährlich und unberechenbar.
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Freya Winter - Mutant
Ciencia FicciónMutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia sein, ehe das Experiment nach hinten losging. Sie sind schneller als normale Menschen, stärker und anders. Die perfekten (Nicht-)Menschen. Un...