Kapitel 88.2

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Schweigend nahm Varya meine Worte zur Kenntnis. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. Als sie ihre Zeitung wieder aufklappte, war es das Zeichen für mich, dass ihr Redebedarf gedeckt war. Auch ich wandte mich von ihr ab und sah zur Wohnzimmertür. Diese erreichte ich mit wenigen Schritten. Meine Finger schlossen sich um die Klinke und die Tür schwang auf. Sofort fielen mir die beiden Personen auf, die sich in dem Raum aufhielten. Es waren auch die einzigen Personen. Lucius schien sich nicht von seinem Platz bewegt zu haben. Er saß noch immer an genau der selben Stelle. Aber gegenüber von ihm auf dem anderen Sofa saß eine junge Frau, die ich als Enya identifizierte. Sie hatte ein sanftes Gesicht und freundliche Augen. Das dunkelblonde Haar hatte sie locker zusammengebunden und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, was ihr einen müden Ausdruck verlieh. Sobald sie mich sah, stand sie auf und lief auf mich zu.

»Hallo. Du musst Freya sein!«, begrüßte sie mich und reichte mir ihre Hand. Irritiert erwiderte ich ihre Geste. »Mein Name ist Enya. Aber ich schätze, das weißt du schon." Sie lächelte schief. Mit einer solchen Begrüßung hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Zwar wusste ich nicht genau, was ich erwartet hatte, aber das war es wohl nicht. Natürlich war das eine vollkommen normale Begrüßung, aber irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt, falls ich mir überhaupt etwas vorgestellt hatte.

»Freut mich, dich kennenzulernen. Samuel hat schon ein wenig von dir erzählt.", sagte ich.

Enyas Wangen nahmen einen leichten rötlichen Ton an. Leise lachte sie. „Ja, das tut er ständig. Sobald jemand zum ersten Mal hier ist, fängt er damit an." In ihren Augen schien es etwas übertrieben oder unnötig zu sein, doch ich konnte Samuel gut verstehen. Er wusste genau wie ich, dass es nicht zur Norm gehörte, sich als Mensch für Mutanten einzusetzen. Geschweige denn, ihnen das eigene Haus zu überlassen. Außerdem hatte sie nach ihrem mutierten Cousin gesucht, sobald sie von Mutanten erfahren hatte. Damit hatte sie jegliches normale Verhalten gesprengt. Samuel war ihr dafür sehr dankbar. Deshalb erzählte er vermutlich allen Neuankömmlingen von seiner Cousine. Einerseits war er sehr stolz auf sie und andererseits wollte er, dass die Neuankömmlinge wussten, wem sie das alles zu verdanken hatten. Wahrscheinlich sah Enya das alles nicht. Für sie war das ganz selbstverständlich gewesen. Wenn sie doch nur wüsste, dass sie ihrem Cousin ein ganzes Leben geschenkt hatte. Und nicht nur ihm. Ohne Enya würden geflohene Mutanten ziellos durchs Land streifen und womöglich erschossen oder gefangen werden.

Sie bemerkte meinen Blick. „Du siehst mich an, als hätte ich irgendetwas Großartiges getan.", stellte sie fest. Sie wusste es tatsächlich nicht. „Dabei bist doch du diejenige, die all diese Kinder damals befreit hat!" Gerade noch so konnte ich es mir verkneifen, meine Augen zu verdrehen. Das schon wieder. Samuel hatte mich auch darauf angesprochen. Natürlich konnte ich die Sichtweise der beiden verstehen. Dennoch fand ich nicht, dass man diese sogenannte 'Befreiung' so hoch ansehen musste. Es ähnelte der Situation zwischen Varya und mir vorhin. Auch sie rechnete mir ihre Befreiung hoch an. Dabei hatte ich sie lediglich benutzt, um mich selbst zu retten. Fast genauso war es auch damals gewesen. Die ganze angestaute Wut und der Wunsch nach Freiheit hatten es mir ermöglicht, aus meiner Röhre auszubrechen. Die Wut und der Hass auf die Wissenschaftler und ihre Experimente hatten ihr übriges getan. Durch sie war ich dazu in der Lage gewesen, die gesamte Einrichtung zu zerstören. Dass die anderen Kinder dabei befreit wurden, war lediglich eine Selbstverständlichkeit. Außerdem hätte das, was ich getan hatte, wirklich jeder andere auch getan.

Entgeistert schüttelte Enya ihren Kopf. „Weißt du es denn gar nicht zu schätzen, was du getan hast?", fragte sie mich fassungslos. „Du hast tausende Leben gerettet!" Und im Nachhinein wieder zerstört. Die Situation damals hatte sich weder verbessert, noch verschlechtert. Vielleicht doch ein wenig mehr verschlechtert. Zumindest für manche. Aber darüber ließ sich streiten. „Meine Güte, Freya! So gut wie jeder Mutant kennt deine Nummer! Es würde mich wirklich überraschen, auf einen Mutanten zu treffen, der sie nicht kennt! Sogar vielen Menschen bist du nicht unbekannt!"

„Das wundert mich weniger, als dass die Mutanten meine Nummer kennen.", erwiderte ich. „Schließlich sehen die Menschen in mir eine Bedrohung. Kein Wunder, immerhin habe ich die Labore zerstört und die Mutanten auf die Menschheit losgelassen."

Enyas Gesichtsausdruck wurde immer entgeisterter. Ihr schienen die Worte zu fehlen. Ihr Mund stand leicht offen, doch kein Ton kam ihr über die Lippen. Einige Sekunden verstrichen, in denen sie nichts sagte. Hilfesuchend sah sie zu meinem Bruder, der schweigend auf dem Sofa saß und zu Boden sah. Er war wohl die falsche Person, an die sich Enya wenden konnte, wenn es um die Mutanten ging. Immerhin war er einer der Jäger gewesen, die Mutanten aufgrund der Bedrohung, die sie darstellten, auslöschen wollte.

„Wie kannst du so etwas nur sagen?", fragte Enya leise. Sie sah erschüttert aus. „Weißt du deine Taten denn gar nicht zu schätzen?" Verständnislos schüttelte sie ihren Kopf, wobei sich ein paar dunkelblonde Haarsträhne lösten und wirr abstanden. „Du hast zahlreichen Unschuldigen das Leben gerettet! Ist dir das denn gar nichts wert?"

Ein sarkastisches Lächeln zierte meine Lippen. „Meine Beweggründe damals waren alles andere als nobel.", erklärte ich. „Ich war bloß ein zwölfjähriges Kind, das endgültig genug hatte." Ein zwölfjähriges Kind, das Rache haben wollte für das, was ihm angetan worden war. Und Ambrosia hatte dafür gebüßt.

Bei diesen Worten sah ich, wie Lucius eine Augenbraue hoch zog. Vermutlich hatte er im Moment das Bild von der Ambrosia-Einrichtung vor sich, die auch er schon zusammen mit den anderen aufgesucht hatte. Sah vielleicht sogar die gefrorenen Leichen im Keller vor sich. Definitiv hatte ich damals 'genug'. Ich hatte das noch ziemlich harmlos ausgedrückt.

„Freya,-", wollte Enya fortfahren, doch ich unterbrach sie.

„Bitte versuche nicht mir weiter einreden zu wollen, dass ich so unfassbar toll bin, Enya.", sagte ich ruhig. „Ich habe einige unschöne Dinge getan. Und der Zweck heiligt die Mittel nicht. Außerdem war es damals eher so, dass weder mein Zweck, noch meine Mittel gut waren. Die Befreiung der Mutanten war mehr eine Nebensache."

Es tat mir fast schon leid, wie müde Enya auf einmal aussah. Immerhin hatte ich ihre Vorstellungen zerschmettert. Vielleicht hatte sie sich mich als eine strahlende Heldin vorgestellt. Als jemanden, zu dem man aufsehen konnte. Ein Idol. Aber das war ich nicht. Wenn es so jemanden gab, käme wohl Enya dem am nächsten. Im Gegensatz zu mir handelte sie nämlich nicht aus purem Egoismus.

Ich handelte, um am Leben zu bleiben. Der Rest war recht nebensächlich. Als Mutant konnte ich es mir nicht leisten, anders zu denken. Natürlich hatte ich einige schöne Jahre gehabt, in denen ich so friedlich, wie es für jemanden wie mich nun einmal möglich war, leben konnte. Das hatte ich Audra und Aldric zu verdanken.

Für eine Weile hatte ich sogar beinahe vergessen können, was ich war. Aber auch nur beinahe.

Im Nachhinein wunderte es mich nicht mehr, dass das alles in die Brüche gegangen war, weil Aldric getötet worden und das Haus in Flammen aufgegangen war. Irgendwann hatte es so kommen müssen. So schwer mir das auch fiel, zu akzeptieren. Es war beinahe ein Wunder, dass so lange nichts passiert war. Liam und ich hatten Glück gehabt. Aber Glück war nicht von langer Dauer.

Ich war eine Schlange, die sich irgendwie durch das Leben schlängelte.Wenn irgendjemand dachte, ich handele aus weitaus gutmütigeren Motiven als das Überleben, hatte er sich geirrt.

Plötzlich erhob Lucius seine Stimme. „Hör auf so zu tun, als würdest du nur aus reinem Egoismus handeln." Er sagte dies ruhig, doch ihm war anzuhören, dass ihm meine Worte missfielen.

»Ach, und du weißt es besser?", zischte ich. Enya zuckte zusammen, Lucius nicht. Ungerührt saß er auf seinem Platz und sah mich an. Er sollte sich da nicht einmischen. Das ging ihn nichts an. Aber was wusste er schon? Es war noch nicht genug Zeit vergangen, als dass er sich einbilden könnte, er würde mich wirklich kennen.

„In diesem Punkt anscheinend schon.", meinte mein Bruder ernst. „Du kannst es doch nicht ernst meinen, was du da erzählst? Denkst du etwa so schlecht von dir? Verdammt, Freya!" Auf einmal stand er auf und machte ein paar Schritte auf mich zu. Das erste Mal seit wir aus Clausens Labor geflohen waren, sah er mir wieder richtig in die Augen. „Außerdem klingst du dabei fast genauso gleichgültig wie Kieran. Und du bist ganz sicher nicht wie Kieran."

Schweigend betrachtete ich meinen Bruder. Von seinen Worten schien er ziemlich überzeugt zu sein. „Wenn du dir so sicher bist, dann nenne mir doch einmal ein paar Beispiele.", forderte ich ihn auf.

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt