Kapitel 38
Erschrocken zuckte ich zusammen, doch hatte mich schnell wieder unter Kontrolle und fuhr fauchend zu der Gestalt herum. Es war ein großer Junge, der ungefähr in dem selben Alter war wie ich. Er hatte eine dunkle Haut, dunkles Haar und trug dunkle Klamotten, die ihn mit der Dunkelheit beinahe verschmelzen ließen. Er wirkte misstrauisch und distanziert, dennoch auch so, als wäre er kurz davor uns anzugreifen. Ich ließ ihn nicht eine Sekunde aus meinen Augen und spürte jeden einzelnen meiner Muskeln, die sich allesamt angespannt hatten. „Wer seid ihr und was wollt ihr hier?", wiederholte der Junge, doch dieses mal schwang ein drohender Unterton in seiner Stimme mit. Er spannte sich an. Er war genauso wie ich bereit einzugreifen. Ich bemerkte Liam, der sich uns vorsichtig genähert hatte und nun neben mir stand.
„Wir sind genauso wie du.", sagte Liam und seine Stimme klang ruhig. Er wollte auf den Jungen beruhigend und vertrauenswürdig wirken. Der Junge war definitiv ein Mutant. Das Problem war bloß, dass er der Mutant der Severos war und weder Liam, noch ich sagen konnten, ob er uns verraten oder unsere Anwesenheit ignorieren würde.
„Das sehe ich.", sagte der Junge trocken. „Was wollt ihr hier?" Auf einmal verfärbte sich sein dunkles Haar zu blattgrün und auch seine Augen veränderten ihre Farbe. Er schien das zu bemerken und fluchte leise. Er schien sich nun sichtlich unwohl zu fühlen und seine Augen huschten kurz zu uns. Liam und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Dann wandte ich mich wieder dem anderen Mutanten zu. „Chamäleon?", fragte ich knapp und er nickte widerwillig. Das erklärte einiges. Da Chamäleons zu den Reptilien gehörten spielten wie auch bei mir, seine Fähigkeiten verrückt. Was wiederum bedeutete, dass er ständig seine Farben wechselte. „Wir können dir helfen.", sagte ich und nun blitzte Interesse in den Augen meines Gegenübers auf. „Ach ja? Könnt ihr das?" Spott hallte in seiner Stimme mit. Doch das konnte nicht verbergen, dass er nun dennoch daran interessiert war an dem, was wir zu sagen hatten.
„Deine Fähigkeiten spielen doch verrückt, oder?", stellte Liam die Frage, auf die er bereits die Antwort wusste. Der andere Mutant nickte. Liam deutete auf mich. „Bei Freya ist es genau das gleiche. Spürst du die Kälte?" Wieder nickte der Junge. Dieses mal jedoch verwirrt. Er schien nicht zu wissen, woher die Kälte kam. Aber wer konnte es ihm übel nehmen? Eigentlich erhielten Mutanten bloß die Fähigkeiten von Tieren. „Freya kann diese Kälte nicht mehr abstellen. Sie bricht unkontrolliert aus ihr heraus.", fuhr Liam fort. „Deswegen sind wir hier. Weil wir wissen, dass die Jäger ein Gerät versteckt haben, das dazu in der Lage ist, dir die Kontrolle über deine Fähigkeiten zu entziehen."
Der Junge wurde auf einmal ganz hellhörig. „Die Jäger?", fragte er. „Sie sind hier?" Argwöhnisch blickte er hinaus in die Dunkelheit des Gartens. Wieder veränderte sich die Farbe seiner Haare. Nun waren sie blau. Ich glaube, das war auch der Moment, in dem er sich dazu entschied, uns zu helfen. „Na gut.", sagte er. „Ich helfe euch beim Suchen." Er streckte zuerst mir seine Hand entgegen. „Kieran Roth.", stellte er sich vor. „Mutant Nummer 39." Ich erwiderte seinen Handschlag. „Freya Winter. Mutant Nummer 93.", stellte ich mich vor. Mir blieb nicht verborgen, wie Kieran vor Kälte erzitterte, als meine Hand die seine berührte.
Kieran runzelte seine Stirn. „93? Bist du nicht die, die die Mutanten damals aus der Halle befreit hat?" Ich nickte knapp. Was hieß hier befreit? Ich hatte sie alle sozusagen in die nächste Katastrophe gescheucht. Kieran sah nun zu Liam. „Und du bist?"
„Liam Steel.", sagte Liam. „45." Kieran musterte Liam für einen kurzen Augenblick lang. Dann sah er wieder zu mir. „Wohnt ihr nicht beide nebenan?", bemerkte er. „Ich meine, ich habe euch mal beim Müll raus bringen gesehen." Liam und ich nickten. „Okay.", fuhr Kieran fort. „Was wisst ihr über dieses Gerät?"
Liam begann zu sprechen. „Es muss etwas Kleines sein. Etwas, das man gut verstecken kann. Und soweit wir wissen, befindet es sich in diesem Raum." Kieran fragte nicht nach, woher wir das wussten. Ich glaubte, er wollte es auch gar nicht wissen. Für ihn zählte nur, dass es eine Möglichkeit gab, wie er wieder Kontrolle über sich bekam. Ich konnte noch nicht sagen, ob ich ihn mochte oder nicht. Er schien mir wie ein verschlossenes Buch, zu dem der Schlüssel fehlte. Ich konnte ihn nicht einschätzen. Er war trotz allem noch immer misstrauisch und gegenüber. Er traute uns nicht. Das konnte ich an seiner Haltung sehen. Kieran wirkte kalt und distanziert. Dennoch war er die ganze Zeit über aufmerksam, ließ weder Liam noch mich aus den Augen. Ich hatte Mitleid mit ihm. Laut seiner Nummer war er länger als Liam damals bei den Wissenschaftlern gewesen und er hatte anders als wir auch nicht das Glück, dass die Severos freundlich zu ihm waren. Kein Wunder, dass er so war, wie er nun einmal war. Trotzdem war er mir ein Rätsel. Mir fiel auch auf, dass er noch mehr darauf achtete, keine Geräusche zu verursachen, als wir. Außerdem scannten seine Augen immer wieder die komplette Umgebung ab. Jeden noch so kleinen Winkel. „Viele Verstecke gibt es hier nicht.", überlegte Kieran. „Aber es ist ein altes Haus. Es sollte eigentlich noch ein paar mehr Verstecke geben, als zu sehen sind." Er lief los. Bei jedem Schritt lauschte er, ob eine der Holzdielen knarrte. Auch Liam und ich machten uns wieder an die Arbeit. Da ich mit dem Schränkchen ja bereits fertig war, ging ich auf das Sofa zu, kniete mich hin und blickte darunter. Doch außer Staub und einem Papiertaschentuch war nichts zu sehen. Ich stand wieder auf und schob meine Hand in die Ritzen des glatten Sofas, doch auch hier ertastete ich nichts. Bei dem Tisch brauchte ich gar nicht erst zu suchen. Es gab keine Schubladen und man konnte ihn auch nicht aufklappen. Ich sah zu Liam, doch auch er schien nichts zu finden. Seufzend drehte ich mich zum Fernseher um. Es war zwar unwahrscheinlich, dennoch sah ich dahinter nach, ob dort nicht vielleicht doch etwas lag. Doch wie erwartet war dort nichts. Kieran tastete mittlerweile die Wand ab. Langsam machte er einen Schritt nach dem anderen, doch plötzlich blieb er stehen. Seine mittlerweile orangenen Augen starrten auf einen speziellen Punkt an der Wand. Mit der Hand strich er über die Wand, bis sie stoppte. „Hier.", sagte er. „Hier ist etwas." Liam und ich kamen beide angelaufen. Auf den ersten Blick sah die Stelle an der Wand, die Kieran meinte genauso normal aus wie die anderen Wände. Doch dann bemerkte ich die kleine, schmale Ritze. Kieran presste seine Hand ein wenig fester auf die Stelle, schloss für einen kurzen Augenblick lang seine Augen und öffnete sie wieder. Mit aller Kraft zog er seine Hand zurück, die auf der Wand zu kleben schien und zog dabei das Stück der Wand mit sich. Nun schwang eine kleine Tür auf und Kieran nahm seine Hand zurück, als wäre nichts gewesen. Ich erblickte einen kleinen Hohlraum hinter der Wand in der sich nur ein kleines, rundes Gerät befand, das die Größe eines kleinen Apfels hatte. Es hatte einen kleinen Display, bei dem man nur auf die Einstellungen tippen konnte. Ein Punkt über dem Display leuchtete in regelmäßigen Abständen immer wieder grün auf.
„Ist es das?", frage Kieran.
„Das werden wir gleich sehen.", meinte Liam und tippte mit seinem Zeigefinger auf „Einstellungen". Sofort wurden mehrere Optionen angezeigt, darunter auch „Deaktivieren". Sofort wählte er „Deaktivieren" aus und das Display wurde schwarz. Das kleine Lämpchen, das bis vorhin immer wieder grün aufgeleuchtet hatte, leuchtete nun nicht mehr auf.
„War das alles?", fragte ich skeptisch. Ich konnte nicht so recht glauben, dass das alles gewesen sein sollte. Die Jäger mussten doch sicherlich noch irgendeine Falle eingebaut haben, für den Fall, dass jemand anderes als sie selbst das Gerät deaktivieren würde. Doch dem Anschein nach war es nicht so. Kieran drückte die kleine Tür wieder zu, sodass sie wie zuvor kaum zu sehen war. Auf einmal spürte ich Liams Blick auf mir. „Frey, es wird wärmer.", sagte er grinsend. Wärmer? Das konnte doch nur bedeuten, dass sich meine Kälte zurück zog und ich wieder die Kontrolle über sie hatte. Er streckte seine Hand nach mir aus und berührte mich.
„Und?", fragte ich.
Sein Grinsen wurde breiter. „Alles wieder wie immer." Bei diesen Worten zog sich ein Lächeln auf meine Lippen. Alles war wieder wie immer. Natürlich war ich noch immer kalt. Doch nicht mehr so extrem kalt, dass sogar Liam zurück zuckte. Auch Kieran schien zu bemerken, dass er wieder die Kontrolle hatte. Er glich seine Farben wieder der Dunkelheit an und wirkte dabei sichtlich erleichtert. „Na endlich.", murmelte er. Dann blickte er auf eine Uhr, die an der Wand hing. 5 Uhr 29. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ihr solltet jetzt gehen. Mr und Mrs Severo sollten jetzt bald aufstehen.", sagte er und etwas an ihm verdüsterte sich. Seine Lippen waren bloß noch eine schmale Linie und in seinen dunklen Augen war eine unglaubliche Härte zu sehen. Als wir uns immer noch nicht bewegten packte er Liam und mich am Arm und zog uns in Richtung Tür. „Na los!", zischte er leise. „Oder wollt ihr, dass sie euch erwischen?!" Genau in diesem Moment hörte ich die Treppe knarzen und ich wusste nicht, ob es dafür schon zu spät war.
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Freya Winter - Mutant
Science FictionMutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia sein, ehe das Experiment nach hinten losging. Sie sind schneller als normale Menschen, stärker und anders. Die perfekten (Nicht-)Menschen. Un...