Kapitel 46
Am nächsten Tag fühlte ich mich schon ein wenig besser. Dennoch saß mir der Schock noch immer schwer in den Knochen. „Geht es dir besser?", kam es sofort von Aldric, als ich die Küche betrat. Anscheinend war er von Audra schon informiert worden. Er legte seine Zeitung beiseite und deutete auf meinen Platz, wo ich immer saß. „Ich habe dir Wassereis geholt. Du kannst so viel haben, wie du willst.", sagte Aldric und lächelte mich an. „Auch zum Frühstück. Aber du weißt, dass das eine Ausnahme ist." Ich nickte lächelnd. „Ja, das weiß ich.", sagte ich. „Danke."
„Immer.", sagte Aldric grinsend und holte direkt den ganzen Karton Wassereis aus dem Gefrierfach. „Reicht das?" Ich machte große Augen. Das war mehr als genug! Ich grinste und nickte. Ich setzte mich und nahm ein Eis aus dem Karton. Es war so schön kühl, dass um das Eis herum die Luft zu dampfen begann. Aldric reichte mir die Schere. In diesem Moment kam Liam die Treppe herunter und ging zu uns in die Küche. Als er mich sah, lächelte er. „Guten Morgen, Frey. Geht es dir besser?"
„Ein bisschen.", meinte ich und schnitt die Spitze des Eises ab. Liam zog den Stuhl neben mir zurück und setzte sich. Vor ihm auf seinem Teller lag ein Spiegelei, Brot und Speck. Das Ei und der Speck waren noch heiß. Aldric griff wieder nach seiner Zeitung und schlug sie erneut auf. „Wäre es vielleicht nicht besser, wenn du einmal mit deinem Bruder ... darüber reden würdest?", fragte Aldric vorsichtig und lugte über seine Zeitung zu mir herüber. Ich ließ mein Eis sinken. „Das glaubst du doch nicht wirklich?" Ich senkte meinen Kopf. „Du hast seinen Blick nicht gesehen. Und nicht das gehört, was ich gehört habe. Du hast nicht gehört, was er gesagt hat. Und nicht gesehen, wie er mich angesehen hat. Als sei ich Abschaum. Eine widerliche Kakerlake." Meine Laune sank von Sekunde zu Sekunde mehr in den Keller. Und danach hatte Lucius erfahren, dass ich es war. Nachdem er es gesagt hat. Nachdem er mich angewidert angesehen hatte. Ich glaubte nicht, dass er besonders glücklich darüber gewesen war, dass ich noch am Leben war. Auch wenn ich ihn weinen sehen hatte. Um die Schwester, die er bereits verloren hatte. Vor vielen Jahren.
„Sag doch so etwas nicht!", fuhr Liam mich an. Ich konnte sehen, dass er wütend war. Ich legte mein Eis beiseite. „Aber es ist so! Du bist noch nicht da gewesen! Aber es ist so gewesen!", rief ich, stand auf und verließ die Küche. Der Appetit war mir vergangen. „Huch!", machte Audra überrascht, als ich an ihr vorbei aus der Küche stürmte. Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich blinzelte sie wütend weg. Ich wollte nicht weinen. Nicht schon wieder. Wieso musste das nur so verdammt unfair sein? Da ich den Garten nicht betreten wollte, ging ich aus der Haustür und warf sie hinter mir mit einem lauten Knall zu. Es war mir egal, ob mich irgendwelche Nachbarn hören konnten. Und es war mir egal, ob sie mich sahen oder nicht. Gerade war mir alles egal. Wut brodelte in mir. Wut und Trauer. Es war nicht gerecht! Es war alles nicht gerecht! Was hatte ich getan? Was hatte ich getan, dass ich das verdiente? Ich lief die Straße entlang. Es war mir egal, dass das gefährlich war. Und den Wald mied ich lieber. Es kribbelte mich in den Fingerspitzen irgendetwas zu vereisen. Am liebsten die ganze Welt. Ich bemerkte nicht, wie die Luft um mir herum immer kälter wurde. Und auch wenn ich es bemerkt hätte; es wäre mir gleichgültig gewesen. Ich war wütend. Wütend auf mein elendiges Leben. Wütend auf die Menschen. Wütend auf den Sommer. Und traurig wegen Lucius. Es war nicht fair. Es war nicht gerecht. Doch was hatte ich schon erwartet? Ich sollte überhaupt nichts mehr erwarten. Es wäre besser so und es gäbe weniger Enttäuschungen. Ich spürte die rauen Steine des Gehweges unter meinen nackten Füßen. Schuhe waren mir eher unwichtig erschienen, als ich los gerannt war. Und es störte mich auch nicht weiter. Ich atmete die warme, aber frische Luft ein. Schon lange war ich nicht mehr eine Straße entlang gelaufen. Schon lange hatte ich mich nur in einem bestimmten Bereich bewegt, der von der Einfahrt, bis hin zum Garten der Harris' reichte. Ich wollte das alles nicht mehr. Ich wollte frei sein. Frei von Regeln. Frei von den Menschen. Frei von quälenden Gedanken. Wieder spürte ich die Tränen, die mir kalt über das Gesicht liefen. Ich bemerkte die Gestalt nicht, die mir in der nähe des Waldes folgte, seit ich aus der Haustür getreten war, doch die ganze Zeit über im Schatten verborgen blieb. Ich blickte nach oben in den blauen, klaren Himmel. Ich war stehen geblieben und starrte einfach nur nach oben. Wie sollte es jetzt weitergehen? Ich konnte nicht einfach ignorieren, was im Garten geschehen war. Ich konnte nicht ignorieren, dass ich meinen Bruder gesehen hatte. Plötzlich packte jemand mein Handgelenk und zog mich vom Bürgersteig in ein Gebüsch. „Hey!", rief ich und versuchte mich aus dem Griff zu befreien, doch da das nicht funktionierte, war das wohl ein Mutant. „Psch!", machte jemand und hielt mir den Mund zu. „Hmpf!", machte ich empört, doch ich wurde nicht losgelassen. Wütend sah ich zu dem Mutanten und stellte fest, dass es Kieran war. Doch der beachtete mich überhaupt nicht, sonder sah mit zusammengekniffen Augen angespannt in den Wald. Verwirrt folgte ich Kierans Blick und hielt Ausschau nach dem, was immer er auch gerade sah. Und da sah ich ihn auch. Schwarzes Haar, grüne Augen, groß. Lucius. Das Herz rutschte mir hinunter. Nein. Bitte nicht. Bitte lass ihn nicht hier sein. Als Kieran bemerkte, dass Lucius keine Anstalten machte, zu uns zu gehen, wandte er sich mir zu. Und er war wütend. Zorn funkelte in seinen dunklen Augen, mit denen er mich ansah. „Was glaubst du eigentlich, was du da machst?!", zischte er mir zu. „Hast du etwa deinen Verstand verloren? Du kannst nicht einfach so hier lang laufen! Bist du lebensmüde?" Kieran raufte sich sein dunkles Haar. „Du weißt doch, dass wir nicht einfach so herum laufen können! Was auch immer mit dir los ist, sieh zu, dass du das unter Kontrolle bekommst, wenn du nicht vorhast, demnächst zu sterben!" Ich schwieg. Natürlich hatte Kieran recht. Das wusste ich. Doch warum interessierte ihn das? Außerdem, war er mir etwa gefolgt, nur um mich von dem Gehweg weg zu ziehen? Er hatte sich in Gefahr begeben. Und wofür? „Hast du nicht mal bemerkt, dass dir ein Jäger gefolgt ist? Der beobachtet schon den ganzen Morgen lang euer Haus, ohne einen Ton zu sagen. Und als andere Jäger kamen, hat er sie weg geschickt.", redete Kieran sich in Rage. „Was ist gestern bei euch passiert, verdammt? Du bist doch nicht einfach weil du darauf Lust hast so daneben!" Nun ließ er mich endlich los. Erst jetzt bemerkte er, die Tränen, die mir nach wie vor über mein Gesicht liefen. Er atmete tief ein und aus, beruhigte sich. „Okay. Was ist los?", fragte er sanft.
„Ich habe herausgefunden, dass mein Bruder bei den Jägern ist.", murmelte ich. Kieran entgleisten die Gesichtszüge. „Ach du scheiße!", stieß er aus, ehe er mich an sich zog und an sich drückte. Er sagte kein Wort mehr. Umarmte mich einfach. Stumm ließ ich es zu. Dann ließ er mich wieder los. „Der da?", fragte Kieran und deutete auf meinen Bruder, der sich umdrehte und wieder im Wald verschwand. Ich nickte nur. „Jetzt komm.", meinte Kieran nur und zog mich aus dem Gebüsch. „Uns darf niemand sehen." Geschickt zog er mich hinter sich her. So schnell und vorsichtig, dass ich wirklich bezweifelte, dass uns jemand sehen konnte. Er setzte mich vor Audras und Aldrics Haustür ab und verschwand selbst wie ein Schatten in dem Haus der Severos. Schweigend trat ich in den Flur und schloss die Tür hinter mir. Sofort kam Liam auf mich zugerannt. „Wo warst du? Du kannst doch nicht einfach so verschwinden! Du weißt, wie gefährlich das ist!"
„Ja, ja, ich weiß. Dank Kieran. Der hat mich aus dem Blickfeld gezogen und zurück gebracht.", sagte ich. Liam seufzte. „Was machst du für Sachen, Frey? Audra ist fast umgekommen vor Sorge! Und Aldric hätte einen Suchtrupp organisiert, aber das- ..."
„...-das ging nicht.", unterbrach ich Liam. „Weil ich ein Mutant bin und ansonsten in die Armee geschickt werden würde. Ich weiß. Lass uns einfach nicht darüber reden, okay?"
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Freya Winter - Mutant
Science FictionMutanten. Genveränderte Menschen. Die neue Zukunft. Weltverbesserung. So sollte es zumindest laut Ambrosia sein, ehe das Experiment nach hinten losging. Sie sind schneller als normale Menschen, stärker und anders. Die perfekten (Nicht-)Menschen. Un...