Kapitel 75

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Kapitel 75

Mit diesen Worten drehte sich der Doktor um und wandte sich der Frau zu. Diese war hochgewachsen, schlank und trug einen emotionslosen Gesichtsausdruck zur Schau. Ihr Gesicht war schmal und ein wenig langgezogen. Das lange, leicht gewellte dunkelbraune Haar unterstrich das dunkle blau ihrer Augen. Obwohl sie genau wie Doktor Clausen einen weißen Kittel trug, wirkte sie nicht, als wäre sie eine Wissenschaftlerin oder als hätte sie einen Doktortitel. Auch auf ihrem Namensschild war davon nichts zu sehen. Bloß ihr Nachname: Melnikova. Generell sah sie auch zu jung aus, um von der Regierung als Wissenschaftlerin angestellt zu werden. Vom Aussehen her, würde ich sie um die zwanzig schätzen. Vielleicht auch Mitte zwanzig.

„Varya, bitte passe auf unsere Gäste auf, so lange ich weg bin.", trug er der jungen Frau auf, die wahrscheinlich seine Assistentin war. Clausen warf Lucius und mir noch einmal ein breites Lächeln zu, ehe er aus der Tür verschwand und uns mit Varya Melnikova allein ließ.

Lucius und ich wechselten kurz einen Blick. So konnten wir keinen Ausbruch planen. Geschweige denn ausführen.

„Gäste.", grummelte Lucius verärgert. „Ja, klar." Naserümpfend verschränkte er seine Arme vor seiner Brust. Abwertend beobachtete er Varya, die sich auf einem weißen Plastikstuhl nieder gelassen hatte, von dem aus sie uns beide gut im Blick hatte. Und dann bemerkte er den silbernen Schlüsselbund, an Varyas Gürtel. „Hey!", rief er. „Pferdegesicht! Lass uns hier raus, die Gäste wollen gehen!"

Varya hob ihren Blick und sah zu Lucius. Skeptisch zog sich ihre linke Augenbraue hoch. An der Emotionslosigkeit ihres Gesichtsausdrucks änderte sich nichts. Sie sprach nicht. Betrachtete Lucius bloß still. Das jedoch regte ihn nur noch mehr auf. „Hast du deinen Boss nicht gehört? Wir sind Gäste! Und Gäste hält man nicht fest!" Varya reagierte nicht.

Ich seufzte. „Lucius, das ist der schlechteste Plan, den du jemals hattest.", sagte ich.

Mein Bruder schnaubte. „Ach ja? Woher willst du das wissen?", erwiderte er herausfordernd.

„Deine Pläne waren schon als Kind nicht besonders gut. Und dieser hier ist echt dämlich.", meinte ich. Genervt setzte ich mich und lehnte mich mit dem Rücken an die Glaswand. Misstrauisch beobachtete ich Varya. Seit ich zu Sprechen begonnen hatte, lagen ihre Augen aufmerksam auf mir. Ihr Blick schien mich zu scannen. Sie musterte mich von oben bis unten. Mein Haar, meine Schuppen, meine Schlangenaugen. Auch meine Eckzähne waren ihr nicht entgangen. Irgendetwas war in ihrem Blick. Etwas, das ich nicht deuten konnte.

„Ja,ja. Gut. Vielleicht war das dämlich.", gab Lucius zu. „Aber dir fällt doch auch nichts ein. Einen Versuch war es wert." Er sah zu Varya. „Schließlich sieht sie nicht gerade besonders schlau aus." Ob er sich da mal nicht vertan hatte ...

Ein ungläubiges Lachen entschlüpfte mir. „Du führst die Jäger an. So eine Aktion hätte ich eher von James erwartet, als von dir.", sagte ich breit grinsend. „Außerdem weißt du schon, dass sie dich hören kann?"

Gleichgültig zuckte mein Bruder mit seinen Schultern. „Was soll's? Dann hat sie es gehört. Na und? Antun kann sie uns nichts." Zur Veranschaulichung packte er einen der Gitterstäbe und rüttelte einmal kräftig daran. „Siehst du?"

Ein leises Rascheln zog Lucius' und meine Aufmerksamkeit auf sich. Wir beide sahen zu Varya. Diese hatte eine Zeitung aus der Tasche ihres Kittels gezogen und sie aufgeschlagen. Erst jetzt bemerkte ich, wie spitz ihre Fingernägel waren. Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich die Frau. Etwas bei ihr kam mir seltsam vor.

Allerdings schien Lucius nichts davon zu bemerken. Der hatte sich wieder an das andere Ende seiner Zelle verzogen und sich dort niedergelassen. Mit verschränkten Armen sah er nachdenklich in die Leere. Er konnte mir nichts vormachen. Er hatte keine Ahnung. Auch mir wollte nichts einfallen, das hilfreich wäre. Wir saßen hier auf unbestimmte Zeit fest.

Wäre Lucius ein Mutant, könnte er seine Gitterstäbe ganz einfach verbiegen oder ausreißen. Dann könnte er ohne große Probleme den Schlüssel von Varya an sich reißen und mich aus dem Glaskasten holen. Aber Lucius war kein Mutant. Darüber war ich eigentlich auch ziemlich froh, auch wenn es uns in unserer Situation ziemlich helfenwürde. Nein, gar nicht. Wäre er ein Mutant, hätte man ihn, genausowie mich, in einen Glaskasten gesteckt. Also würde das auch nichts bringen.

Und ob wir auf Hilfe von außen warten konnten, war fraglich. Zumal die Chancen ziemlich gering waren, dass die Jäger, Liam und Kieran uns hier finden würden. Geschweige denn, dass sie uns hier raus holen konnten. Immerhin war das mir Audras Befreiungsaktion auch nicht reibungslos verlaufen.

Ich seufzte tief. Audra. Ob ich sie jemals wiedersehen würde, war eine berechtigte Frage. Immerhin würde nicht ich es sein, die ihr erklären musste, dass Aldric gestorben war. Und ich würde nicht sehen müssen, wie traurig und enttäuscht Audra sein würde. Wir hätten Aldric retten können. Doch wir hatten es nicht getan. Wir hatten es nicht einmal versucht.

„So!", erklang plötzlich die Stimme des Doktors. Er war zurückgekehrt. Aufgeregt klatschte er in seine Hände. „Mit wem von euch fange ich an?" Mit schnellen Schritten ging er auf den weißen Labortisch zu, auf dem einige Papiere und Klemmbretter lagen. Kurz besah er sich die Papiere, ehe er eines nahm und es an einem der Klemmbretter befestigte. Mit einer routinierten Bewegung zog er einen Kugelschreiber aus der Tasche seines weißen Kittels. Diesen ließ er einmal auf klicken. Seine Augen bewegten sich über das Papier. „Hm.", machte Clausen. „Wie wäre es mit dir, dreiundneunzig?" Er nahm seine Augen von dem Papier und sah mich eindringlich an. „Oder sollte ich besser 'Freya' sagen?" Sofort verdüsterte sich mein Gesicht. Er kannte meinen Namen. Natürlich kannte er ihn. Bestimmt hatte er die Ambrosia-Akte gelesen. „Okay. Du willst nicht antworten. Verständlich.", sagte Clausen, zuckte mit seinen Schultern und grinste. „Ich denke, ich werde mit dir anfangen. - Keine Sorge. Erst einmal werde ich dir nur etwas Blut und Speichel entnehmen. Danach kannst du zurück in deine Zelle." Clausen wandte sich an Lucius. „Wenn ich mit deiner Zwillingsschwester fertig bin, bist du an der Reihe. Auch dir werde ich erst einmal nur Blut und Speichel entnehmen. Das war's dann für heute, denke ich." Kurz notierte er sich etwas auf seinem Klemmbrett. Schließlich legte er es zurück auf den Labortisch, während er den Kugelschreiber wieder in die Tasche des Kittels gleiten ließ.

„Varya, richte schon mal den Stuhl für unsere kleine Mutantin her.", beauftragte er Varya. Die klappte sofort ihre Zeitung zusammen, stand auf und ließ sie auf dem Stuhl liegen. Zügig steuerte sie auf eine Art Zahnarztstuhl zu. An diesem erkannte ich zu allen Übels dicke Fesseln. - Wie damals bei Ambrosia.

Neben dem Zahnarztstuhl befand sich ein Tisch, den man mit Hilfe von Rollen beliebig überall hin schieben konnte. Dort lagen bereits zwei Spritzen, zwei Wattestäbchen und vier Ampullen bereit.

Mit einem breiten Lächeln kam Doktor Clausen auf meine Zelle zu.„Versuche gar nicht erst, dich zu wehren. Es wird bloß reine Kraftverschwendung sein."

Freya Winter - MutantWo Geschichten leben. Entdecke jetzt