Prolog

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    Ob sie je das Richtige getan hatte?

    Grazeda hatte bis jetzt nie darüber nachgedacht. Sie folgte schon lange nicht mehr dem Flüstern ihres Herzens, hatte es vielleicht nie getan. Sie folgte nur der Tradition, den vorgeschriebenen Bahnen, in denen ihr Leben immer verlaufen war. Die Frage nach richtig und falsch hatte sie sich nie gestellt.

    Wozu auch? Sie hatte einen festen Platz in der Welt. Und sie war zu alt, noch einmal an ihren Anschauungen zu rütteln.

    Auch jetzt verdrängte sie die Gedanken mit besserem Wissen, durchquerte mit bedächtigen und doch festen Schritten den kleinen, kahlen Raum, hielt auf die weinende junge Frau in dessen Mitte zu. Sie war hier, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ihrer alten Tage würde sie sie nicht mehr hinterfragen, keinen neuen Weg mehr einschlagen.

    Die zarte Statur wirkte verloren und zerbrechlich, sie drückte mit zitternden Fingern das kleine Bündel an ihre Brust, wiegte es hin und her.

    Grazeda schenkte ihr keine Beachtung, ihr Blick war nur auf das Neugeborene gerichtet, während sie in der langsamen Manier einer alten Dame einen Fuß vor den anderen setzte. Es fehlte ihr nur noch ein Krückstock. Der marmorne Boden spiegelte verzerrt ihre Gestalt. Nur am Rande nahm sie die verschwenderischen Schnitzereien an den Wänden wahr. Alles nur für einen Raum, in dem die Neugeborenen der Hohen Familien ihre Namen verliehen bekamen.

    Vor wenigen Stunden erst hatte ihr jüngstes Enkelkind das Licht der Welt erblickt. Doch obwohl es ruhig in den Armen seiner Mutter lag, schlief es nicht. Stattdessen richteten sich seine großen Kinderaugen auf Grazeda. Neugierig, ganz so, als wollten sie fragen, was sie mit ihm vorhatte.

    Ein Gefühl überschwemmte sie, als sie die Kleine erblickte, schwappte über die Mauern, die sie vor langer Zeit in ihrem Geist errichtet hatte. Eine tiefe Gewissheit von violetter und blutroter Farbe. Intuitiv spürte sie, dass ihr jüngstes Enkelkind eine bedeutende Rolle einnehmen, Großes leisten würde. Viel Größeres, als sie zu erfassen vermochte. Als wäre es ein winziges Stück eines großen Plans, der weit über Grazedas Vorstellungskraft hinausging. Als würde es den Unter- und Aufgang von Welten bedeuten.

    Langsam und vorsichtig näherte ihre alte, faltige Hand sich der rosigen Haut, zitterte dabei wie ein Tuch im Wind. Einen Moment nahm sie das Zucken der Mutter wahr, den ängstlich angehaltenen Atem. Sie war unwichtig, verschwand gänzlich aus Grazedas Gedanken, als sie das Kind berührte, nur für einen Wimpernschlag.

    Es durchfuhr Grazeda tief in ihrem Inneren wie ein Blitz, der die Ketten sprengte, die sie dem blutroten Tier in ihrem Inneren angelegt hatte. Die Bilder stiegen in ihr auf wie feiner Rauch, unwillkürlich und unaufhaltsam. Eines blieb vor ihrem Geist hängen. Sie war nicht mehr Herr ihres inneren Auges.

    Eine junge Frau zeigte sich ihr, das lächelnde Gesicht gen Himmel gereckt, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Tränen überströmten ihre Wangen, vermischten sich mit Regentropfen. Die Frau war umgeben von immer höher sprießendem Grün, sich rekelnden Pflanzen. Von Leben.

    Es durchzuckte sie einem Peitschenhieb gleich, der die Ketten klirren ließ, die das blutrote Tier einst angeleint hatten. Ein neues Bild vor ihrem Geist – Es zeigte dieselbe Person, das weiche Gesicht von kinnlangen, braunen Haaren umrahmt. In ihren rehbraunen Augen war ein verliebtes Glitzern zu erkennen, auf ihren Lippen ein hauchfeines Lächeln, während ihre Wangen eine sanfte Röte zierte. Sie trug ein luftiges, hellblaues Kleid. In einer Hand hielt sie ein gefülltes Glas, in dem eine schlierende Flüssigkeit golden prickelte. Glück.

    Die Szenerie zersprang, damit ruckartig die nächste vor Grazedas inneres Auge gezerrt wurde. Eine Frau auf einem grasbewachsenen Hügel, die Arme ausgestreckt, von grauen Stürmen und Wirbeln umgeben, die sie hungrig umkreisten. Violettes Blut versickerte in grünem Gras. Tod lag in der Luft.

    Dann war es vorbei, nach nur Bruchteilen von Sekunden.

    Anne, zog ein Flüstern durch Grazedas Geist, wurde in ihren Adern von Blutstropfen zu Blutstropfen weitergegeben. Das Wispern bauschte sich zu einem Wirbelsturm auf, bis alles ganz und gar von diesem einen Wort erfüllt war, in einem überwältigenden Gefühl all ihr Denken einnahm.

    Als es schlagartig abebbte, zog Grazeda die Hand zurück. Das blutrote Tier hatte genug gewütet, rollte sich ruhig zusammen. Für den Moment war sein Blutlechzen verstummt. Grazeda legte ihm die zersprengten Ketten wieder an.

»Anne«, sagte die ältere Dame mit brüchiger Stimme, bevor sie sich umdrehte, mit schnellen Schritten ging, die im Raum widerhallten. Sie hörte noch, wie ihrer Schwiegertochter ein Schluchzen entwich, wie sie ihrer Tochter Worte zu murmelte, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt