Kälte. Es war das erste Gefühl, das Anne spürte, als sie die Augen aufschlug. Die Kälte des harten Bodens, die durch den dünnen Stoff hindurch in ihre Glieder sickerte. Die Kälte in der feuchten Luft, die wie eine Klinge über ihre Haut strich und wegen der sie sich im Schlaf eng zu einer Kugel zusammengerollt hatte. Die Kälte ihres Kleides, das ihr klamm und schwer am Körper klebte und sie zittern ließ.
Vorsichtig setzte Anne sich auf. Steifheit war in ihre Glieder geschlichen, machte die Bewegungen schwer. Sie roch die Feuchte hier, doch sehen konnte sie nichts. Es machte keinen Unterschied, ob sie die Lider geöffnet oder geschlossen hielt. Die Dunkelheit nahm alles ein, ließ sie sich fühlen wie blind.
Sie rieb die Handflächen aneinander, spürte ihre Finger kaum. Fröstelnd zog sie die Beine an ihren Körper, rieb mit den Armen über ihre Oberschenkel. Sie hörte ihren eigenen, stoßartigen Atem in der Dunkelheit verklingen. Es war das einzige Geräusch, das verzweifelt versuchte, gegen die Stille anzukommen.
Der Untergrund, auf dem sie saß, fühlte sich vollkommen glatt an, war von keiner Unebenheit gezeichnet. Eisig kalt.
Anne blinzelte mehrmals. Ganz langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, begannen, Konturen und Umrisse zu erkennen. Sekunden vergingen, in denen sie nur dasaß, vor- und zurückwippte und sich auf ihren ruhigen Atem konzentrierte. Die Stille wirkte bedrohlich und zugleich genoss Anne sie. Erinnerungen wollten sich in ihren Kopf schleichen, doch sie drängte sie beiseite – nicht hier, nicht jetzt. Sie wollte sehen, wo sie war, musste die Situation einschätzen können. Alles andere war im Moment nicht wichtig.
Anne erkannte Streben, die senkrecht nach oben verliefen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie erkannte, dass es runde Stäbe waren – Gitterstäbe. Solche, die Menschen daran hinderten, zu entkommen. Die sie einsperrten. Ein mulmiges Gefühl kroch in Anne hoch. Ihre Augen huschten hin und her, versuchten, mehr zu erkennen.
Ihre steifen Glieder ließen sich kaum rühren, weigerten sich, sie zu tragen, als sie aufstehen wollte. Anstatt zu gehen, kroch sie nach vorne, zog ihren Körper halb über den Boden, schleppte sich vorwärts, hin zu den Gitterstäben. Ihre Finger krallten sich in den Boden, der viel zu glatt war, als dass sie darin hätte Halt finden können. Quälend langsam kratzten ihre kurzen Nägel darüber.
Anne atmete schwer, hatte die Lippen fest zusammengepresst, als sich ihre Hände um die Stäbe legten. Vorsichtig rutschte sie ein wenig hin und her, veränderte ihre Sitzposition, in der Hoffnung, ihre tauben Beine mögen wieder von Blut durchflossen werden.
Sie legte die Stirn an die runden Stäbe, hielt sie wie eine Ertrinkende mit den Händen fest umklammert, schloss die Augen. Das glatte Metall brannte sich kalt in ihre Haut. Anne wurde wieder bewusst, dass das hier Gitter waren. Gitter, die sie am entkommen hindern sollten. Sie saß in einer Zelle … als Gefangene.
Anne ließ den Atem entweichen, ihn langsam über ihre Lippen fließen. Ihre Lider flogen wieder auf und sie hob den Kopf, ließ ihn noch immer nah an den Stäben, die sie von der Freiheit trennten. Wo auch immer die hinführte. Wo auch immer die Graue sie hingebracht hatte.
Von links meinte sie einen schwachen Lichtschein zu erkennen, doch sie wusste nicht, woher er kam. Er erhellte genug, damit sie weitere Stäbe erkennen konnte, weitere Zellen, ihrer gegenüber, daneben noch eine. Ein ganzer Gang, links und rechts gesäumt von unzähligen Zellen. Anne konnte kein Leben darin erkennen. Nichts rührte sich.
Annes Mund wurde trocken. Sie wünschte sich, es wäre mehr Licht hier, mehr Wärme. Es war so düster hier, so bitterkalt. Der modrige Geruch schien alles zu überdecken.
Ein resigniertes Seufzen entfloh ihr, bevor sie sich zurücksinken ließ, sich auf die Handballen stützte, die hinter ihrem Körper auf dem glatten Boden auflagen. Vielleicht war sie in dem unterirdischen Gefängnis, das tief unter Aira lag. Früher waren hier graue Magier eingesperrt worden, nach dem Krieg andere Verbrecher. Doch man hatte es schnell aufgegeben, neue Zellen über der Erde gebaut, die nun auch nicht mehr in Gebrauch waren. Doch wieso hätte man sie an einem Ort einsperren sollen, der seit hunderten von Jahren nicht mehr benutzt, vielleicht nicht einmal mehr betreten worden war? Wieso hatte Kalee Merui, die graue Magierin sie mitgenommen und hier eingesperrt?
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Das Flüstern Kentairas I - Graues Gift
Fantasy"Ein Flüstern. Nichts weiter als ein Flüstern. Und doch so machtvoll." Eine Welt, in der die Frage nach richtig und falsch nur im Untergrund existieren kann. Eine Welt wie Kentaira, Annes Heimat. Ihr Leben lang trainiert sie, geht an ihre Grenzen, n...