Kapitel 5

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    Es war ein seltsamer Tag. Er schien sich in die Länge zu ziehen wie der klebrige Saft der Voira-Pflanze, zugleich flog er an Anne vorbei wie der Wind an ihrem Fenster in einer stürmischen Nacht. Sie fühlte sich wie in einer zerbrechlichen Glaskugel, ein Betrachter der Welt von außen, ohne selbst daran teilzuhaben. Separiert von allem anderen, gefangen in ihren eigenen Gedanken.

    Es mussten Tage vergangen sein und doch nur Sekunden, als die Schüler ihre Sachen zusammenpackten, das Rascheln von Papier und das Scharren von Stühlen zu hören war und Anne aus ihrem glasigen Starren geschreckt wurde. Blinzelnd richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt, sah den Schülern dabei zu, wie sie nacheinander aus dem Raum huschten – die Blicke gesenkt und die Taschen fest an sich gepresst.

    Sie selbst packte eilig ihre Tasche, deutete vor dem Lehrer hastig eine Verbeugung an, ohne ihn anzusehen, und hastete sogleich durch die Gänge der Akademie. Ihre Gedanken schwirrten noch immer unsortiert umher. Alles fühlte sich unecht an, als wäre sie gar nicht richtig da. Sie kannte dieses Gefühl mittlerweile gut, es war in den letzten Wochen zu einem steten Begleiter geworden. Dieses Gefühl der Unwirklichkeit und der Sinnlosigkeit. Sie irrte nur noch in ihrem Leben umher, ohne zu wissen, wohin sie wollte, was jetzt kam.

    Entschieden schüttelte sie den Kopf, drosselte ihre Schritte. Innerlich rief sie sich ihren Stundenplan vor Augen. Sie hatte jetzt drei Stunden Pause, bevor ihr nächster Kurs begann. Drei Stunden zu freien Verfügung.

    Anne blieb kurz stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Es war ein feiner Stich in ihrem Herzen, gut platziert. Kein Extra-Training heute. Wie die letzten Wochen auch. Ihre Tage als angehende Beschützerin waren gezählt; jetzt war sie nichts mehr als gewöhnlich. Gequält verzog sie das Gesicht. Eine Schülerin der Akademie der vereinten Magie, die ihre Kurse absolvierte und auf einen Abschluss hoffte.

    Es waren ernüchternde Gedanken, die ein Gefühl der Bitterkeit in ihrem Herzen keimen ließen. Anne zwang sich, die Augen zu öffnen, weiterzugehen. Ihre Füße trugen sie ohne Ziel durch die verzweigten Gänge der Akademie.

    Ihr Geist war niemals still. Er quälte sie mit dem Was-wäre-wenn. Wenn sie Beschützerin geworden wäre, wenn das hier nicht ihre Wirklichkeit wäre, sondern Vendras. Hielt ihr eine glorreiche Zukunft vor Augen, die in unerreichbare Ferne gerückt war.

    Ihr Kopf peinigte sie mit dem Wieso. Immer und immer wieder wisperte dieses eine Wort durch ihre Gedanken, wurde lauter und die Gefühle drückender. Sooft Anne sich diese Frage auch stellte, sie fand keine Antwort darauf. In ihrer Eifersucht hatte sie viele Dinge an Vendra gefunden, die sie nicht hatte. Aber nichts war so gravierend gewesen, das die Entscheidung der Magie, Vendra statt Anne zu erwählen, gerechtfertigt hätte.

    Oder? Hatte sie etwas übersehen? War Vendra vielleicht doch besser als sie, stärker, disziplinierter? War sie selbst zu schwach?

    Mit dem Wieso kamen die Zweifel. Die Zweifel an ihr selbst, ob sie gut genug war, ob sie je gut genug sein würde. Sie klebten an ihr wie der zähe Saft der Voira-Pflanze, ließen sich nicht lösen, so hartnäckig sie es auch versuchte. Zäh wie Voira klebten sie an ihr, nur waren sie nicht so süß im Geschmack. Stattdessen waren diese Gedanken, diese Zweifel, mattes Gift. Nach und nach zerfraß es sie.

    Anne trat ins Freie, über den gepflasterten Innenhof. Die Sonne sandte ihre hellen, blendenden Strahlen zur Erde. Heute war ihr die Wärme zuwider.

    Sie ging an dem goldenen Denkmal vorbei, dem sie heute keine Beachtung schenkte. Es wuselte von sich unterhaltenden Schülern, von jenen, die lachten, von jenen, die einfach schnell um die nächste Ecke huschten und dem unaufmerksamen Auge leicht entgingen. Von jenen, die am Boden saßen und sich Seiten aus Büchern einzuprägen versuchten oder sich an kleineren Magieübungen versuchten und sich immer wieder bei den Umstehenden entschuldigten, wenn etwas schiefging.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt