Kapitel 19

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    Anne schlug die Augen auf. Unter sich spürte sie den harten, kalten Boden, der sich in ihren Kopf bohrte. Sie fröstelte, rollte sich zu einer Kugel zusammen, zog die dünne Decke enger um sich. War es wirklich nur ein Traum gewesen? Beinahe hätte sie spöttisch aufgelacht. Ein Traum in einem Traum. Ein Traum in einem Traum in einem Traum. Absurd. Realer, als Träume sein durften.

Die Nacht schmiegte sich tröstlich um sie, umfing sie mit wohltuender Dunkelheit. Es war alles in Ordnung. Sie hatte geträumt. Manchmal fühlten sich unechte Dinge eben erschreckend real an, als wären sie wirklich geschehen. Aber das hier war nicht geschehen. Nur eine Fantasie. Alles andere ... ein feiner, wohlplatzierter Stich nahe ihres Herzens, gesetzt von einer Nadel aus Eis.

»Ich bin keine Mörderin.« Anne flüsterte die Worte in die Finsternis hinaus, so plötzlich waren sie ihr in den Kopf gekommen. Daran musste sie festhalten. Was immer geschehen war – ob sie Traum und Wirklichkeit nun unterscheiden konnte oder nicht – das war die Konstante im Chaos ihrer Gedanken, ein Anker in einem aufgewühlten Fluss während einer Gewitternacht. Sie war keine Mörderin.

»Bist du das Mädchen, das bei Telz war?« Annes Kopf zuckte beim Klang der melodischen Stimme herum, setzte sich auf. Dasselbe Mädchen aus ihrem Traum betrat den Raum, das von hinten auf sie fallende Mondlicht fing sich in den blauen Steinchen an ihren Ohren.

Anne schnappte nach Luft, kramte in ihrer Erinnerung. Sie hatte dieselben Worte benutzt. Dieselben Worte wie in ihrem Traum. Traum. Order Wirklichkeit? Die Zeit wiederholte sich. Jemand hatte das Stundenglas noch einmal umgedreht, ehe alle Sandkörner hindurchgeronnen waren. Anne sprang auf, brachte sich binnen Bruchteilen von Sekunden in eine stehende Position. Ihre zitternden Hände umklammerten noch immer die dünne Decke. Sie sah, wie sich die Stirn des Mädchens kräuselte, wie ihr Kopf kaum merklich auf eine Seite kippte. Anne war sich bewusst, welches seltsame Bild sie abgeben musste. Bebend, in einem zu großen Nachthemd, das Svanja ihr gegeben hatte, die Decke in den Händen, wie sie die Fremde mit glühendem Blick fixierte. Die Zeit wiederholte sich? Nicht in diesem Punkt. Graue Magie, flüsterten ihre Gedanken. Es war die einzige Möglichkeit, die einzige, die plausibel erschien. Sie schüttelte den Kopf. Nicht hier, nicht jetzt – nicht in diesem Alptraum. Nicht wichtig für den Moment.

Eine andere Frage beschäftigte sie, bei der ihr Puls zu rasen begann, ihre Wangen zu brennen. Ihre Finger krampften sich um die Decke.

»Filrona, lebt Telzian?«

»Er lebt«, sagte sie leise mit ihrer weichen, melodischen Stimme. »Er ist krank, aber er lebt.« Sie klang nachdenklich. Sinnierend. Doch das war Anne egal. Für einen Moment schloss sie die Augen, ließ sie Erleichterung und Gewissheit fluten. »Und du kennst mich. Nur woher?« Anne schluckte, schloss für einen Moment die Augen. Sie schwankte, fand ihr Gleichgewicht nur schwer wieder. Krank. Telzian war krank. Und die einzige, die ihm helfen konnte, war sie. Sie, die ihn angegriffen hatte. Sie musste ihn heilen. Wie in ihrem Traum. Vor ihrem inneren Auge beschwor sie das Bild der wirbelnden, ineinanderfließenden Farben herbei. Sie musste das wieder tun.

Entschlossen legte sie die Decke auf den Boden, erhob sich daraufhin wieder, stand breitbeinig. Fest. »Kannst du mich zu ihm bringen? Zu Telzian?« Ihr Blick bohrte sich in Filronas, während sie bangte – sie hielt den Atem an.

Die Andeutung eines Stirnrunzelns zeigte sich auf der Stirn des Mädchens, doch es nahm ihr nicht die seltsame Unschuld, die sie permanent zu umgeben schien. Neugierig legte sie den Kopf schief, ihre Augen blitzten. »Woher kennst du mich?« Sie klang weich, wie eine Mutter und zugleich wie ein kleines Kind, das vertrauensvoll eine Frage stellte, ohne sich ihrer Auswirkungen bewusst zu sein. Fasziniert betrachtete Anne sie, bevor sie bemerkte, dass sie antworten sollte. Sie fuhr zusammen.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt