Annes Blick lag drängend auf ihrer Großmutter, während sie darauf wartete, dass sie das Wort erhob. Die süßlich-bitteren Aromen des Tees verbreiteten sich im Raum; Grazeda ließ ihn unangetastet.
Anne saß mit kerzengerader Haltung auf dem roten Samtsessel, wie sie es gelernt hatte. Bewegungslos starrte sie die alte Dame ihr gegenüber an, versuchte, jede Emotion aus ihrem Gesicht zu verbannen. Ihre Miene blieb starr. Nur ihr Zeigefinger tippte in beständigem Takt auf die Armlehne, auf der ihre Hand lag – Zeuge ihrer zehrenden Ungeduld.
Grazeda nippte ungerührt an ihrer Tasse, scheinbar, ohne von dem Blick ihrer Enkelin auch nur Notiz zu nehmen. »Vergiss das Blinzeln nicht«, sagte sie unvermittelt, ohne auch nur aufzusehen.
Anne blinzelte, wurde aus ihrer Starre geholt. Die gefühllose Maske fiel von ihr ab. »Was?«
Sie bekam keine Antwort, stattdessen rührte ihre Großmutter seelenruhig in ihrer Tasse. Das Klirren des Löffels erschien Anne laut wie das Einschlagen eines Blitzes. Es zehrte an ihren Nerven, spielte mit ihnen. Sie trommelte weiter mit dem Zeigefinger auf der Sessellehne herum, der Rhythmus wurde schneller.
»Übe dich in Geduld, Anne«, sagte Grazeda und stellte mit einem Seufzen endlich ihre Tasse beiseite. »Du wirst es noch brauchen.« Sie sah auf, sah Anne nun direkt an. Die hielt ihrem Blick möglichst ausdruckslos stand; das nervöse Zucken ihrer Mundwinkel konnte sie nicht ganz verhindern. Die Hände bettete sie brav in ihren Schoß. Heute hatte sie beschlossen, alle Sitten des Beisammenseins anzuwenden, die man ihr in jahrelanger Kleinstarbeit eingetrichtert hatte. Sie hatte das vage Gefühl, dass sie ihre Großmutter davon überzeugen musste, dass sie es würdig war, zu den Hohen Familien zu gehören. Dass sie ihre Eignung erst noch beweisen musste, jetzt, wo sie keine Beschützerin geworden war. Sie hatte das Gefühl, dass sie nur auf diese Weise Antworten bekommen konnte.
»Hat dir das die Magie eingeflüstert?«, brachte sie nach einem Schlucken angespannt hervor, um die seltsame Stille zu füllen. Ihre Stimme klang rau.
Grazeda lachte nur leise auf eine Art wie nur sie es beherrschte. »Nein, mein Kind«, sagte sie, dieses mütterliche Lächeln zur Schau tragend, das Anne zuvor am Küchentisch an ihr vermisst hatte. »Aber Geduld ist eine seltene Gabe und eine hilfreiche noch dazu. Sie hätte viele Menschen vor vorschnellen Handlungen bewahren können, hätten sie mehr davon besessen.« Sie seufzte, ihr Blick glitt in träumerische Ferne. Trauer und Sehnsucht lagen darin. In diesem Moment sah sie so unglaublich alt und zugleich so jung aus.
Es dauerte nur einen Moment, bevor ihr Blick sich klärte, wieder ins Hier und Jetzt zurückkehrte und sie ganz die Rolle der Großmutter einnahm. Doch diese wenigen Augenblicke, in denen sie von fernen Erinnerungen geträumt hatte, sie hatten ein fremdes, weiches Licht auf sie geworfen, das Anne fest in ihrem Herzen behalten würde. Unweigerlich fragte sie sich, wie es Grazeda wohl in ihrem Alter ergangen sein musste. Was sie gedacht, was sie gefühlt und erlebt hatte.
»Also, mein Kind«, holte sie Anne aus ihren Gedanken. »Was liegt dir auf der Seele?«
Anne rückte ihre Sitzposition zurecht, legte die Hände in ihrem Schoß zusammen. Sie war am Zug. Ernst betrachtete sie ihre Großmutter. »Hattest du schon einmal seltsame Träume?« Die Worte verließen schnell ihren Mund, klangen dringlich. Und zugleich lag Distanz in ihrer Stimme. Nüchternheit. So, wie man ihr beigebracht hatte, zu reden – sie war wirklich gewillt, heute ihre ganze Erziehung zur Geltung zu bringen.
Ein leichtes Nicken war die Antwort.
»Ich habe welche. Seit Wochen. Immer wieder. Der erste war am Tag vor der Auswahl, der letzte … der letzte …« Sie atmete ein, atmete aus, ließ Luft in ihre nervösen Lungen strömen und wieder hinaus. »Der letzte hat sich angefühlt wie die Realität. Echt. Als wäre es wirklich passiert. Eine Erinnerung wie jede andere auch. Ich … kann nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden, Grazeda.«
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Das Flüstern Kentairas I - Graues Gift
Fantasy"Ein Flüstern. Nichts weiter als ein Flüstern. Und doch so machtvoll." Eine Welt, in der die Frage nach richtig und falsch nur im Untergrund existieren kann. Eine Welt wie Kentaira, Annes Heimat. Ihr Leben lang trainiert sie, geht an ihre Grenzen, n...