Kapitel 7

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    Anne bog gerade in die erste Gasse ein, als ein Knall hinter ihr ertönte, von so durchschlagender Lautstärke, dass ihre Ohren bebten.

    Entsetztes Kreischen, verwirrte Schreie, hektische Rufe.

    Ihre Härchen stellten sich auf. Auf dem Absatz wirbelte sie herum, erblickte ein heilloses Chaos. Menschen liefen durcheinander, riefen Dinge, die sie nicht verstehen konnte.

    Ihre Muskeln spannten sich an, ihr Herz preschte voran. Etwas war geschehen. Ihre wachsamen Augen glitten zurück zum Hafen, über den Fluss hinweg.

    Und sie sah, was den durchdringenden Knall ausgelöst hatte, was die Verwirrung der Menschen um sie herum zunehmend in Panik ausarten ließ.

    Stoßartig atmete sie aus, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das zur Seite gekippte Schiff. Ohne zu realisieren, was sie da überhaupt sah. Eine feine, graue Rauchsäule stieg auf.

    Das Bild traf sie als Schlag, so heftig, dass sie taumelte. Verwirrt blinzelte sie, als müsse die Szene vor ihr jeden Moment verschwinden. Als wäre es nur ein Produkt ihrer Fantasie, das sich in der nächsten Sekunde in Luft auflöste.

    Nur langsam sickerte die Erkenntnis in ihr Bewusstsein. Das war echt. Das Schiff war gekentert. Es sank, mitsamt aller Menschen an Bord. Jess war da drin.

    Ihr Blut gefror zu Eisklumpen; die Adern zogen sich schmerzhaft zusammen. Ein einziges, verzweifelt gehauchtes Wort verließ ihren Mund: »Nein.«

    Anne rannte los, ohne zu wissen, warum. Rücksichtslos stieß sie andere Menschen beiseite. Die Unruhe in ihren Adern trieb sie. Ihre weit aufgerissenen Augen klebten an dem gekenterten Schiff, noch immer. Konnten sich nicht davon lösen – als könnte das alles verschwinden, wenn sie es nur lange genug anstarrte. Oder als könnte sie es endlich fassen. Als könnte sie es für wahr und für wirklich halten, was sich da abspielte.

    Sie prallte mit einem Körper zusammen, nahm am Rande dunkle Locken und zerrissene Kleidung wahr. Sie stolperte zurück, fing sich wieder. Hastig taumelte sie weiter; ihr Blick fand abermals das Schiff. Sie musste dorthin. Jess war da drauf.

    Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Es sank, mit jeder Sekunde ein Stück mehr. Das Wasser eroberte es, umströmte das Schiff, auf dem sich ihre große Schwester befand. Dem Ertrinken viel zu nah.

    Dem Ertrinken. Jetzt erst realisierte Anne, was das bedeutete. Jess könnte sterben. Es war, als schwappten tausend kochend heiße und zugleich klirrend Kalte Wellen durch Annes Körper, sie sie zeitgleich verbrannten und stechendes Eis durch ihre Adern schickten.

    Sie kämpfte sich durch die Menschenmasse, bis sie keuchend ganz nah am Ufer des Denekle stand. Mit aufgerissenen Augen sah sie hinüber zu dem Kahn, der in immer stärkere Schieflage geriet. Noch deutlicher konnte sie jetzt die Rauchsäule erkennen.

    Sie stand am Ufer und konnte nichts tun, als mit wachsender Verzweiflung das sinkende Schiff zu betrachten. Ihre Schwester war da drin, ihre Cousinen, ihre Cousins. Das war das sicherste Gefährt, das je gebaut worden war, konstruiert nur für die Beschützer. Und doch war es gekentert, nur Minuten, nachdem die Taue gelöst worden waren. Es sank. Das Schiff, auf das Jess gestiegen war, auf das sie alle vertraut hatten. Es machte Anne wahnsinnig.

    Hilflos warf sie Blicke nach links und rechts. Jemand musste etwas unternehmen! Sie war drauf und dran, einfach in den Fluss zu springen und hinüberzuschwimmen. Sie sah niemanden, der etwas tat – nur Menschen, die sich zunehmend aus ihrer Schockstarre lösten und nun panisch umher rannten. Sie sah ein Kind weinen und sie hörte Rufe, die wie Befehle klangen.

Das Flüstern Kentairas I - Graues GiftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt